Im Schatten eines Atomkriegs

Geschrieben von peacemaker2002 am 04. Juni 2002 22:41:45:

der artikel hat mich wirklich bewegt...
kurz gesagt, das volk will kein krieg, aber unsere hab und machtgiergen herscher wollen es...

c.u.
p.m


Im Schatten eines Atomkriegs

von Arundhati Roy

ZNet 02.06.2002

Diese Woche - während die Diplomaten-Familien und die Touristen
eilig das Land verlassen -, trafen ganze Herden europäischer u.
amerikanischer Journalisten ein. Die meisten von ihnen steigen
im 'Imperial Hotel' in Delhi ab. Viele rufen mich an: Warum sind
Sie noch hier? Warum haben Sie die Stadt noch nicht verlassen?
Ist ein Atomkrieg denn keine reale Möglichkeit? Natürlich - aber
wohin sollte ich gehen? Wenn ich jetzt weggehe, und später ist
jeder und alles, was ich kannte, plötzlich zu Asche verbrannt -
jeder Freund, jede Freundin, jeder Baum, jedes Haus, jeder Hund,
jedes Eichhörnchen, jeder Vogel, alles was ich gekannt u. geliebt
habe -, wie könnte ich da weiterleben? Wen sollte ich dann noch
lieben? Wer sollte mich wiederlieben? Welche Gesellschaft würde
mich wohl aufnehmen, mir erlauben, der 'Rowdy' zu sein, den ich
hier (in Indien) darstelle?

Wir haben alle zusammen beschlossen, dazubleiben. Wir sind zusammen-
gekrochen, haben festgestellt, wiesehr wir uns doch lieben u. was
für eine Schande es wäre, wenn wir ausgerechnet jetzt sterben müßten.
Unser Leben ist normal, weil das Makabere zur Normalität geworden
ist. Während wir auf Regen warten, aufs Fußballspiel, auf Gerechtig-
keit, sprechen alte Generäle u. blutjunge aufgekratzte Redakteure
im Fernsehen von 'Erstschlag' u. einer 'Zweitschlags-Möglichkeit' -
geradeso, als diskutierten sie im Familienkreis ein Brettspiel. Meine
Freunde u. ich hingegen diskutieren über 'Prophecy' - jenen Film über
die Atombombe auf Hiroshima u. Nagasaki: tote Körper, die überall
den Fluß verstopfen, die Lebenden ohne Haare, ohne Haut, uns fällt
vor allem wieder jener Mann ein, der regelrecht in die Stufen eines
Gebäudes hineingeschmolzen war, u. wir überlegen uns, wie wir wohl
aussehen würden - als Fleck auf einer Steintreppe.

Mein Mann schreibt gerade ein Buch über Bäume. Ein Kapitel handelt
über die Befruchtung von Feigenbäumen. Für jede Feige gibt es ja eine
spezielle Feigenwespe, die diesen Job übernimmt. Es gibt fast tausend
verschiedene Arten von Feigenwespen. Alle diese Feigenwespen werden
'nukleatisiert' sein, ebenso wie mein Mann u. sein neues Buch. Eine
gute Freundin - eine Aktivistin in der Anti-Dämme-Bewegung für das
Narmanda-Tal -, befindet sich derzeit im unbefristeten Hungerstreik.
Heute ist der 12. Tag ihres Fastens. Sie u. die andern Hungerstrei-
kenden werden rasch schwächer. Sie protestieren dagegen, daß unsere
Regierung Schulen niederbulldozert, daß sie Wälder ummacht, daß sie
Handpumpen zerstört, daß sie Bewohner aus ihren Dörfern vertreibt.
Was für ein Akt des Glaubens u. der Hoffnung (der Hungerstreik). Aber
für eine Regierung, die bereit ist, die ganze Welt zu opfern - was
ist für eine derartige Regierung schon ein geopferter Wert?

Terroristen besitzen die Macht, einen Atomkrieg auszulösen. Gewaltlose
Formen des Widerstands werden mit Verachtung gestraft. Vertreibung,
Enteignung, Hunger, Armut, Krankheit - das alles nur noch Themen für
belustigende Comicstrips. Inzwischen kommen u. gehen die Emissäre der
'Koalition gegen den Terror', sie predigen Zurückhaltung. Tony Blair
kam, um uns Frieden zu predigen - und nebenbei, um sowohl Indien als
auch Pakistan Waffen zu verkaufen.

Die abschließende Frage, die mir jeder Journalist, der zu Besuch kommt,
jedesmal stellt, lautet: "Werden Sie ein neues Buch schreiben?" Diese
Frage empfinde ich als Verhöhnung. Ein neues Buch - und das in einem
Moment, in dem es so scheint, als ob alle Kunst, alle Musik, alle
Architektur, alle Literatur, ja die ganze menschliche Zivilisation
ohne Bedeutung sind für jene Monstren, die unsere Welt regieren. Was
für ein Buch sollte ich denn schreiben? Im Moment - aber nur im Moment,
nur für eine Weile - ist Bedeutungslosigkeit mein größter Feind. Das
haben Atombomben so an sich - ob sie nun gezündet werden oder nicht:
sie verletzen alles Menschliche, sie verändern den Sinn des Lebens.
Warum tolerieren wir Atombomben? Warum tolerieren wir die Leute, die
Atombomben benutzen, um die gesamte Menschheit zu erpressen?

Die Inderin Arundhati Roy ist Autorin des vielgelobten Romans 'The
God of Small Things' (Harper-Perennial, 1997); auf Deutsch: 'Der Gott
der kleinen Dinge' (Goldmann Deutschland, 1999). An Sachbüchern hat
sie u.a. herausgebracht: 'The Cost of Living' (Modern Library, 1999)
u. 'Power Politics' (South End Press 2001); auf Deutsch: 'Die Politik
der Macht' (Goldmann Deutschland 2002). Frau Roy ist eine der führenden
Antikriegs- u. Antiglobalisierungs-Aktivistinnen. Der vorliegende
Kommentar wurde erstmalig veröffentlicht in einer britischen Radio-
sendung (Radio 4's Today programm).

Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Under The Nuclear Shadow"

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