Die Politik der Macht !!

Geschrieben von peacemaker2002 am 18. Mai 2002 00:39:17:

Arundhati Roy
Die Politik der Macht

Aus dem Englischen von
Helmut Dierlamm, Matthias Fienbork,
Ilse Lange-Henckel, Ursel Schäfer,
Wolfram Ströle und Reinhard Tiffert

München: btb-Verlag. 2002, 312 S.
ISBN 3-442-72987-4


Inhalt

Vorwort ..................................................... 9

...dann ertrinken wir eben:
Der Widerstand gegen das Narmada-Stauprojekt ................ 21

Das Ende der Illusion ....................................... 119

Die Politik der Macht
Rumpelstilzchens Reinkarnation .............................. 159

Die Frauen und ihre Gefühle ...
Sollen wir es den Experten überlassen? ...................... 207

Über das Bürgerrecht auf freie Meinungsäußerung ............. 239

Wut ist der Schlüssel ....................................... 263
Krieg ist Frieden ........................................... 287


Buch

Mit ihrem Welterfolg »Der Gott der kleinen Dinge« faszinierte die
Inderin Arundhati Roy Millionen Leser in allen Kulturen. In dem
vorliegenden Band nimmt sie engagiert Stellung zu den aktuellen
Geschehnissen nach dem 11. September, zu verheerenden Ereignissen
in ihrer Heimat wie einem gigantischen Staudammprojekt, den indischen
Atombombenversuchen und der Privatisierung der indischen Energiever-
sorgung und allgemein zu den Auswirkungen der Globalisierung. Uner-
bittlich prangert sie politischen Größenwahn und menschenfeindliche
Ignoranz an. So entsteht ein flammendes Plädoyer für Zivilcourage und
Widerstand.

»Wer weiß, vielleicht ist es das, was das 21. Jahrhundert für uns auf
Lager hat: die Demontage des Großen. Großer Bomben, großer Staudämme,
großer Ideologien, großer Widersprüche, großer Länder, großer Kriege,
großer Helden, großer Fehler. Vielleicht wird es das Jahrhundert
der kleinen Dinge sein. Vielleicht macht sich gerade jetzt droben im
Himmel der kleine Gott für uns bereit.« (Arundhati Roy)

Autorin

Die Inderin Arundhati Roy studierte Architektur und schrieb mehrere
preisgekrönte Drehbücher. Ihr erster Roman »Der Gott der kleinen
Dinge« sorgte für eine internationale literarische Sensation und
wurde mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet. Für ihr
Engagement im Kampf für die Menschenrechte in ihrem Land erhielt
Arundhati Roy den großen Preis der Weltakademie der Kulturen. Die
Autorin lebt in Neu-Delhi.

* * *

Rezension zum neuen Buch von Arundhati Roy

Als Arundhati Roys 1996 veröffentlichter Debutroman "Der Gott der
kleinen Dinge" ein Weltbestseller wurde, wäre nach den Regeln des
literarischen Betriebes eigentlich zu erwarten gewesen, daß bald
darauf ein weiterer Roman von ihr erscheinen würde. Diesem stereo-
typen Muster hat sich die Schriftstellerin jedoch erfolgreich
entzogen. Stattdessen setzt sie ihre Popularität und ihr poetisches
Talent dafür ein, sich zugunsten Benachteiligter zu engagieren. Ihr
neues Buch "Die Politik der Macht" ist eine Sammlung politischer
Essays, die zwischen 1999 und 2001 entstanden sind. Die Autorin
bezieht dabei Stellung zu verschiedenen Themen sowohl der nationalen
indischen als auch der internationalen Politik.

Mit dem ersten Aufsatz des Buches, der den Titel ,... dann ertrinken
wir eben: Der Widerstand gegen das Narmada-Stauprojekt" trägt, führt
Arundhati Roy dem Leser vor Augen, wie zynisch die indische Regierung
gemeinsam mit einer internationalen Dammbau-Lobby mit den Bedürfnissen
und Interessen der von dem gigantischen Narmada-Staudammprojekt
Betroffenen umgeht. Diese werden günstigstenfalls mit einem kleinen
Stück Land entschädigt oder mit einem unerheblichen Geldbetrag
abgefunden. Die meisten von ihnen landen früher oder später in den
Slums der Großstädte. Diese Tragödie im Namen des Fortschritts wird
von der Regierung in Kauf genommen, obwohl längst klar ist, daß große
Staudammprojekte im allgemeinen und das Narmada-Projekt im besonderen
nicht die erwarteten Resultate bringen.

In dem zweiten Essay mit dem Titel "Das Ende der Illusion" befaßt
sich Arundhati Roy mit der Problematik der indischen Atombombe. Sie
macht deutlich, wie differenziert der Jubel über die erfolgreichen
Atombombentests Indiens in einem Land zu sehen ist, in dem ca. 40 %
der Bevölkerung Analphabeten sind, und auch der größte Teil derjenigen,
die lesen und schreiben können, nicht über die notwenige Bildung ver-
fügt, um sich auch nur im entferntesten die Folgen einer Atombomben-
explosion vorstellen zu können.

Der dritte Aufsatz des Buches, "Die Politik der Macht - Rumpel-
stilzchens Reinkarnation", beschäftigt sich mit den vorwiegend
negativen Auswirkungen der Globalisierung und der Privatisierung
von Staatsbetrieben im indischen Wirtschaftsraum.

In ihrem nächsten Essay, "Die Frauen und ihre Gefühle ... Sollen wir
es den Experten überlassen?", definiert Arundhati Roy ihre Rolle als
kritische Schriftstellerin. Sie sieht die Aufgabe von Schriftstellern,
Künstlern und Filmemachern in der gegenwärtigen Situation darin, die
Auswirkungen der Globalisierung aus der Anonymität der Statistiken
zu holen und in die Darstellung wirklicher menschlicher Schicksale
umzusetzen. Sie ruft zu aktivem Widerstand auf, dessen Aufgabe es ist,
eine verantwortungsvolle Politik zu erzwingen.

Die unangenehmen Folgen dieses kritischen politischen Engagements
werden an Arundhati Roys eigenem Beispiel im fünften Abschnitt des
Buches deutlich gemacht, der den Titel "Über das Bürgerrecht auf
freie Meinungsäußerung" trägt. Dieser beinhaltet den Text einer
Klage wegen Mißachtung des Gerichts gegen sie und zwei führende
Mitglieder der Widerstandsbewegung gegen das Narmada-Staudammprojekt.
Dem Text schließt sich eine eidliche Erklärung Arundhati Roys an,
in der sie die Vorwürfe zurückweist und auf ihr Recht auf freie
Meinungsäußerung pocht.

In dem folgenden Essay, "Wut ist der Schlüssel", bezweifelt die
Verfasserin, daß die Anschläge vom 22. September 2001 westlichen
Werten wie Freiheit und Demokratie gegolten haben und erklärt,
daß ganz konkret die Politik der amerikanischen Regierung der
Auslöser gewesen sei. Sie stellt treffend dar, daß die Folgen
der amerikanischen Außenpolitik weitaus gravierender waren als
der Anschlag vom 11. September 2001 und sehr viel mehr unschuldige
Opfer gefordert haben. Arundhati Roy sieht daher den gegen die USA
gerichteten Terrorismus als logische und direkte Folge der ameri-
kanischen Politik.

Der letzte Abschnitt des Buches, der den Titel "Krieg ist Frieden"
trägt, befaßt sich mit dem Angriff der "internationalen Koalition
gegen den Terror" auf Afghanistan. Die Autorin macht deutlich, daß
die US-Regierung den Menschenrechtsverletzungen der Taliban vor dem
11. September 2001 gleichgültig gegenüberstand und bezweifelt, daß
durch derartige Aktionen der Terrorismus ausgemerzt werden kann.

Die vorliegende Publikation ist das beeindruckende Werk einer mutigen
Frau, die sich das Recht nimmt, unbequem zu sein. Man merkt, daß
Arundhati Roy es mit ihrem politischen Engagement ernst meint und daß
es ihr wirkliches Anliegen ist, Mißstände aufzudecken und zu ihrer
Abschaffung beizutragen. Wie kontrovers ihre Argumente dabei manchmal
aufgefaßt werden, war im Oktober des vergangenen Jahres zu beobachten,
als der Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert sich in einem Artikel auf
die in ihrem Essay "Wut ist der Schlüssel" gemachte Bemerkung bezog,
Osama Bin Laden sei der dunkle Doppelgänger von George W. Bush. Wickert
hatte darauf aufbauend die These vertreten, die Denkstrukturen von
George W. Bush seien die gleichen wie die von Osama Bin Laden. In der
anschließenden Debatte wurde von seiten der CDU/CSU Wickerts Rücktritt
gefordert. Wickert wurde vom NDR gerügt und mußte sich öffentlich für
seine Äußerungen entschuldigen.

Ein absolut spannendes und lesenswertes Buch. Arundhati Roy versteht
es meisterhaft, Statistiken und trockene Fakten mit konkreten Schick-
salen Betroffener zu verknüpfen und durch ihre anschauliche Erzählweise
zu einem fesselnden Stück politischer Literatur zu machen. Daneben ist
ihre Argumentation in sich schlüssig und durch zahlreiche Quellenbelege
gut fundiert. Ein Buch, das Mut macht, sich gegen Mißstände und Unge-
rechtigkeiten zu engagieren.

Arundhati Roy: Die Politik der Macht,
München 2002, btb-Verlag. ISBN 3-442-72987-4

Rainer Knopf
raikno@gmx.de

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Indien lodert
Arundhati Roy sieht den Subkontinent vom Faschismus bedroht

SANTINITEKAN, im Mai

"Die deutliche Fußspur des Faschismus erscheint in Indien. Wir wollen
uns das Datum merken: Frühling 2002." Dieser Aufschrei ist Höhepunkt
von Arundhati Roys neuestem Essay, soeben in der indischen Wochen-
zeitschrift "Outlook" erschienen. In ihrer aufrüttelnden Darstellung
beschreibt die Schriftstellerin die Ereignisse, die ihr Land er-
schüttern, seitdem Ende Februar ein muslimischer Mob in der Provinz
Gujarat einen Zug anzündete, in dem Hindus aus einem Wallfahrtsort
zurückkehrten. Achtundfünfzig Menschen verbrannten. Unmittelbar
danach brach in der Provinzhauptstadt Ahmedabad Gewalt gegen die
muslimische Bevölkerung los. Mindestens neunhundert Menschen starben,
womöglich waren es mehrere tausend Opfer. Nahezu hunderttausend
Menschen, deren Häuser niedergebrannt wurden, leben nun in Flücht-
lingslagern unter unmenschlichen Bedingungen. Die Gewalt flackert
fast täglich wieder auf. Auch nach über zwei Monaten sind weder
Normalität noch Besinnung oder gar Reue eingekehrt.

Gujarat, am westlichen Rand Nordindiens gelegen, ist neben Maharashtra
die wohlhabendste Provinz Indiens mit einer breiten Mittelschicht und
einer dichten industriellen Infrastruktur. Ihre muslimische Bevölkerung
ist reich und aufstrebend, gilt als geschäftstüchtig, ist aber noch
tief im Kastenwesen verwurzelt und sehr von Traditionen bestimmt.
Konflikte zwischen Hindus und der muslimischen Minderheit hat es in
Gujarat immer wieder gegeben. Es ist die einzige große Provinz Indiens,
in der die rechtsgerichtete Bharatiya-Janata-Partei (BJP) seit einem
Jahrzehnt die Regierung stellt. Die BJP hat mit ihren Kaderorganisati-
onen antimuslimische Sentiments lange schüren können. Nun sind sie zum
Ausbruch gekommen.

Vor diesem Hintergrund vollzogen sich die Massaker, die nach Berichten
von Augenzeugen gut vorbereitet waren und mit der stillschweigenden
Duldung und Kooperation der Polizei und der staatlichen Bürokratie aus-
geführt wurden. Einige Beamte, die Ausschreitungen verhindern wollten,
wurden unverzüglich versetzt. Der Vorsitzende der unabhängigen National
Human Rights Commission, ein pensionierter Oberster Richter, besuchte
Gujarat und bestätigte die Parteilichkeit der Regierungsmaschinerie.
Trotzdem ist die Regierung unter Narendra Modi weiterhin im Amt, unter-
stützt von der Zentralregierung in Neu-Delhi, die von einem BJP-Pre-
mierminister geleitet wird. Enttäuscht konstatiert Roy: "Es ist ein
Zeichen der Zeit, daß kein einziger der Koalitionspartner die Regierung
verlassen hat." Eine Polarisierung und Gettoisierung großen Ausmaßes
hat eingesetzt, die, wenn sie nicht gestoppt wird, den sozialen Fort-
schritt im Land um Jahrzehnte zurückwerfen wird.

Die unabhängigen Medien sind voll empörter Berichte über die Grausam-
keiten. Arundhati Roy bestätigt, daß die nationale Presse "außergewöhn-
lich mutig in der Verurteilung der Ereignisse" gewesen sei. Außerhalb
von Gujarat häufen sich Aufrufe, Unterschriftenkampagnen, Protest-
märsche. Die Presse spricht von "Pogromen" gegen die Muslime und fragt,
wie lange Gesetz und Ordnung in der indischen Gesellschaft überleben
können, wenn die Regierung Gujarat dem Mob überläßt.

Valson Thampu und Swami Agnivesh, zwei bekannte Aktivisten, machen
auf die internationale Konstellation aufmerksam. Auf der Internetseite
"Tehelka.com" schreiben sie: "Es ist fraglich, ob diese Art und dieses
Ausmaß des Pogroms gegen die Muslime in Gujarat möglich gewesen wären,
wenn nicht die Vereinigten Staaten durch ihren sogenannten 'Krieg
gegen den Terrorismus' eine globale Aversion gegen Muslime manipuliert
hätten." J. N. Dixit gibt in der "Hindustan Times" andererseits zu
bedenken, daß Indiens diplomatischer Kampf gegen die Terroristen,
die von Pakistan her den von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs
infiltrieren, unglaubwürdig werde, wenn Indien die eigenen maro-
dierenden Terrorbanden nicht in Schach halte.

Indische Intellektuelle fragen sich entsetzt, was mit dem friedlieben-
den, toleranten Hinduismus geschehen ist, und übersehen, daß ein ganz
anderer Hinduismus vor etwa hundert Jahren als Reaktion auf Kolonial-
macht und Modernität entstanden ist: Er propagiert ein kämpferisches,
politisches "Hindutum", dem sich alle anderen Religionen unterordnen
müssen. Dies ist die Wurzel der heutigen Entwicklung.

Pratap Bhanu Mehta, Philosoph in Neu-Delhi, erläuterte im "Hindu",
daß auch die nicht radikalisierten Hindus ihren Zustand als ewige
"Verlierer" der Geschichte verinnerlicht hätten: Zuerst waren sie die
Untergebenen im muslimischen Mogulreich, dann der Christen während der
Kolonialzeit, schließlich bis heute der wirtschaftlichen und kulturel-
len Macht des Westens. Diese Verlierermentalität der Hindus drängt nach
Befreiung und Selbstbehauptung. Unfähig zu eigener Kreativität, will,
so Mehta, ein Teil der Hindu-Bevölkerung sich die eigene Identität im
Gegensatz zu anderen Religionen schaffen. Dieser Teil sucht nun voll
Ärger eine dominierende Rolle in der Geschichte. Es ist gerade die
moderne, materiell relativ sorgenfreie Mittelklasse, die jetzt aufbe-
gehrt. In Gujarat war die Hindu-Mittelklasse auf Motorrädern und mit
Mobiltelefonen ausgerüstet auf der Straße, um die Attacken auf die
Muslime zu koordinieren. Mehta resümiert: "Ernstlich mißgeleitet ist
ein Hinduismus, der sich nicht durch innere Reformen oder eine innere
Kraft der Überzeugung erhalten und ausbreiten will, sondern indem er
dieselben Fehler begeht, die früher gegen ihn begangen worden sind."

Arundhati Roy fragt in ihrem Essay: "Können wir in uns nicht entdecken,
daß wir einer uralten Zivilisation angehören, anstatt nur einer eben
erst entstandenen Nation?" Sie vergleicht, wie viele andere Kommenta-
toren auch, die gegenwärtige Tendenz in Indien mit dem Nationalsozia-
lismus in Deutschland. Seit dem indischen Atomtest im Jahr 1998 sei
der "blutdurstige Patriotismus" offen politisch akzeptabel geworden,
sagt Roy. Seitdem bedeute "indischer Nationalismus" immer mehr "Hindu-
Nationalismus".

Wer sich dagegen wehren wolle, müsse mithelfen, den Staat neu aufzu-
bauen, damit er wieder vertrauenswürdig werde. "Der Kampf heißt, die
Herzen und Gedanken der Menschen zurückzugewinnen." Roy bemerkt ab-
schließend: "Faschismus kann nur abgewendet werden, wenn alle, die
von ihm entsetzt sind, ein Engagement für soziale Gerechtigkeit zeigen,
das der Tiefe ihres Entsetzens gleich ist. Sind wir bereit, nicht nur
auf der Straße zu demonstrieren, sondern am Arbeitsplatz und in den
Schulen und in unseren Familien, bei jeder Entscheidung, die wir
fällen, auf dieses Ziel hinzuwirken?"

MARTIN KÄMPCHEN

aus: FAZ, v. 13. Mai 02

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