Bericht aus Ramallah 1.4.02

Geschrieben von Maria_2 am 01. April 2002 19:02:58:

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Krieg gegen die Zivilbevölkerung

Peter Schäfer 01.04.2002
Ein Bericht aus Ramallah

Ramallah ist seit dem frühen Freitagmorgen vollständig von der israelischen Armee besetzt. Soldaten durchsuchen Haus für Haus nach Verdächtigen und Waffen. Tote Palästinenser wurden in mehreren Gebäuden gefunden. Das Hauptquartier Jassir Arafats ist weitgehend zerstört, der palästinensische Präsident in seinem Büro von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten.

Die Lage der Menschen in Ramallah spitzt sich zu. Das Haus zu verlassen, ist lebensgefährlich. Der Zugang zu Lebensmitteln und Medizin ist deshalb abgeschnitten. Panzer patrouillieren durch die Straßen, auf hohen Gebäuden sind israelische Scharfschützen positioniert. Die Geschehnisse in der gesamten Stadt zu überblicken, ist im Moment nicht möglich. Der folgende Bericht stützt sich deshalb auf Beobachtungen im unmittelbaren Stadtzentrum in Sichtweite des Hauptquartiers von Arafat, auf Telefon und lokale Radionachrichten.


Am Freitag werden die Bewohner Ramallahs um drei Uhr morgens von heftigem Artilleriefeuer geweckt. Panzer rollen in die Stadt und stoßen auf bewaffneten palästinensischen Widerstand, der allerdings mit den Panzerkanonen schnell zerschlagen ist. Auch in unmittelbarer Nähe schlagen die Granaten ein. Das Haus erzittert unter der Wucht der Explosionen.

Ein kleiner Teil im Stadtzentrum ist am Freitagmorgen noch für ein paar Stunden frei. Einige Menschen bewegen sich dort vorsichtig durch die Straßen, wohl wissend, dass ein Blick hinter die nächste Straßenecke lebensgefährlich sein kann. Suraida Abu Gharbiya, eine 24-jährige Nachbarin, wird am frühen Morgen von israelischen Heckenschützen getötet, als sie mit ihrem Mann und ihrer fünfmonatigen Tochter vor den Panzergranaten in ein Nachbarhaus fliehen will. Der Ehemann ist schwer verwundet.

Da am Freitagmorgen ein Lebensmittelladen noch seine Türen geöffnet hält, können sich Bewohner der umliegenden Häuser noch schnell mit haltbaren Lebensmitteln eindecken, obwohl die Hamsterkäufe des Vortages wenig Käufliches zurückließen. Zeit für lange Gespräche hat keiner. Die Menschen teilen sich schnell die neuesten Nachrichten und Vermutungen mit und eilen nach Hause zurück. Einer ist noch einigermaßen ruhig. "Ich habe noch mehr Angst als bei der Invasion vor zwei Wochen", sagt er. "Die Israelis machen jetzt, was sie wollen, keiner hält sie zurück." Alle Menschen, mit denen er an diesem Morgen telefonierte, waren vor allem wegen der israelischen Ankündigungen beunruhigt, dass Präsident Jassir Arafat deportiert oder verhaftet werden soll.



"Wenn Arafat weg ist, bricht hier alles zusammen. Da er über dreißig Jahre palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung verkörpert, kann er die unterschiedlichen Fraktionen zusammenzuhalten. Gnade uns Gott, wenn er weg ist."

Die Frage, ob nun noch eine Lösung der verfahrenen Situation vorstellbar ist, verärgert ihn.



"Keine Besatzung, kein Widerstand. Keine Unterdrückung, keine Selbstmordanschläge", erklärt er kurz. "Das ist schon seit Jahrzehnten so und dieser Zusammenhang wird sich nicht ändern."

Er prüft schnell die Lage vor dem Laden und verabschiedet sich. Wenige Minuten später preschten israelische Panzer die Straße herab, begleitet von Maschinengewehrsalven. Die Besetzung der Stadt ist seither komplett.


Stillgelegte Medien


Für besondere Panik sorgen fehlende Informationen über die Vorgänge innerhalb der Stadt. Während des ersten Einmarsches der Armee vor zwei Wochen unterrichteten lokale Fernsehsender über die Bewegungen der Panzer und die Positionen der Scharfschützen. So war wenigstens kurzfristig einschätzbar, welche Apotheken, welche Supermärkte schnell aufgesucht werden können. Als aber um neun Uhr am Freitagmorgen die Stromversorgung fast im gesamten Stadtgebiet zusammenbrach, waren die Menschen von diesen lebenswichtigen Informationen abgeschnitten. Seit Sonntag ist das Stromnetz wieder weitgehend hergestellt, aber die einzelnen Radio- und Fernsehstationen senden nicht mehr.

Wie sich herausstellte, überfielen die israelischen Soldaten nacheinander alle Sender, verhafteten die anwesenden Journalisten und zerstörten zumindest im Falle des Radio- und TV-Senders Amwaj die gesamte Ausstattung. Über einen Sender strahlten die Soldaten für einige Zeit Pornovideos aus. Am Sonntagmorgen funktionieren noch der Radiosender Al-Manara und der Fernsehsender al-Nasr. Und um etwa acht Uhr morgens werden die Radiohörer Zeugen dramatischer Entwicklungen. Der unprofessionelle Sprecher, wahrscheinlich ein im Studio eingeschlossener Techniker, meldet: "Soldaten dringen im Moment in das Gebäude ein. Ich bitte um Ihr Verständnis für das baldige Abbrechen des Sendebetriebes. Wir werden versuchen, Sie bis zum Schluss mit Nachrichten zu versorgen." Viertelstündlich unterrichtete er das Publikum von dem Aufstieg der Soldaten durch das Treppenhaus.

Al-Manara ist aber weiterhin in der Lage, ein Notprogramm aufrecht zu erhalten. Die Soldaten kamen offensichtlich noch nicht ins Studio. Da alle anderen palästinensischen Medien ausgeschaltet wurden, entschließt sich Al-Manara zur Ausstrahlung des Programms arabischer Satellitensender über UHF-Frequenz. Der kleine palästinensische Fernsehsender al-Nasr greift ebenso auf deren Material zurück. Dies ist seither die einzige Informationsquelle für die Bewohner Ramallahs.


Überall Panzer


Am Samstagmorgen zeigt ein vorsichtiger Blick aus den Fenstern mehrere Panzer in der unmittelbaren Umgebung. Im etwa 500 Meter entfernten Haupquartier Arafats hat der nächtliche Regen die rauchenden Trümmer gelöscht. Mehrere Gebäude sind zerstört. Die Armee hält bis auf ein Stockwerk von Arafats Bürogebäude alles besetzt. Nach Informationen von Bekannten hat Arafat bereits am Freitag mehrere Vertraute und Weggefährten angerufen, um sich von ihnen zu verabschieden.

Ab acht Uhr morgens klingeln die Telefone, Freunde und Bekannte aus anderen Stadtteilen erkundigen sich nach der Lage, fiebern nach neuen Nachrichten. Niemand hat mehr als zwei Stunden Schlaf gefunden, obwohl die meisten noch von der ersten Nacht übermüdet sind. Wegen der schlechten Nachrichtensituation kursieren die wildesten Gerüchte. "Die Israelis ziehen sich zurück", "Ben-Elieser (der israelische Verteidigungsminister) ist zurückgetreten", "Die USA machen Druck auf Israel." Alles stellt sich nach kurzer Zeit als falsch heraus. Anfängliche Hoffnungsschimmer zerschlagen sich wieder.

Und immer wieder schießen die Panzer. Detonationen in der Nähe und aus anderen Gegenden, obwohl der bewaffnete palästinensische Widerstand mittlerweile völlig zum Erliegen gekommen zu sein scheint. In einem der Nachbarhäuser halten sich zwar mehrere Bewaffnete versteckt. Sie wagen sich aber nicht mehr vor die Tür, die direkt in Schussweite einer der wenigen bekannten Heckenschützenpositionen liegt. Mit ihren Kalaschnikows könnten sie gegen die Panzer sowieso nichts ausrichten.

Und immer wieder fahren Ambulanzen in der Nähe vorbei. Eine weist Einschüsse auf. Die israelische Armee erlaubt im Moment noch den Krankentransport in das Al-Riaya-Hospital im Zentrum. Eine Auskunft über die dortige Lage ist am Telefon nicht zu erhalten. Nach dem Geschrei im Hintergrund müssen die Verhältnisse aber chaotisch sein. Nun ist ein weißer Jeep mit einer Fahne des Roten Kreuzes zu sehen. Hinter ihm ein Tankwagen, der wohl Benzin für die Notstromaggregate des Krankenhauses transportiert.

Da nähert sich ein bedrohliches Brummen. Ein Panzer rollt die Straße herauf, hinter ihm fünf weitere. Vor dem Haus halten sie an. Was jetzt? Das auf dem Geschützturm installierte Maschinengewehr mit der angeschlossenen Videokamera sucht die Umgebung ab. Zehn bange Minuten. MG-Kugeln durchschlagen mühelos zwei Betonwände, ohne ihre tödliche Wirkung zu verlieren. Glücklicherweise sehen die Panzerfahrer nichts und rollen langsam weiter.


Notstand


Da schießt der Panzer. Ein hohes Gebäude in der Nachbarschaft wird getroffen, es brennt. Ein Anruf bei der Feuerwehr bleibt ohne Erfolg: "Wir können im Moment nicht ausrücken", so der Beamte am Telefon, "weil die Soldaten uns beschießen." Mittlerweile ist die ganze Nachbarschaft von schwarzen Rauchwolken vernebelt. Die Feuerwehr kommt nicht. Nach etwa drei Stunden erlischt der Brand offensichtlich von selbst.

Über Radio wird die Bevölkerung nun zu Blutspenden ins Al-Riaya-Hospital aufgerufen. Da der Weg dorthin aber zu gefährlich ist, stellt eine Nachbarin eine Liste der Spendewilligen in der Umgebung zusammen. Damit ruft sie beim Palästinensischen Roten Halbmond an und schlägt vor, einen Krankenwagen zur häuslichen Blutabnahme vorbeizuschicken. Die Hilfsorganisation lehnt ab, "weil wir wegen der vielen Verletzten keine Kapazitäten dafür frei haben".

Unterdessen findet ein Korrespondent von Dubai TV fünf Leichen in einem Bürogebäude im Zentrum Ramallahs. Sämtlich palästinensische Polizisten, die nach dem israelischen Einmarsch das Haus nicht mehr verlassen konnten. Alle fünf lagen in einem Raum, wiesen Kopfschüsse, schwerste Gesichtsverletzungen und Einschüsse im ganzen Körper auf. Anhand der Fernsehbilder war zu erkennen, dass alle aus nächster Nähe erschossen wurden. Der Boden des Raumes war voller Patronenhülsen.


Hausdurchsuchung


Am Sonntagmittag prescht eine Gruppe Panzer und Jeeps die Straße herunter, hält vor dem Haus an. Etwa fünfzehn Soldaten steigen aus und erzwingen sich Zugang zur Wohnung. Mit einem Spürhund durchsuchen sie alle Räume, die Prozedur dauert nur wenige Minuten. Das benachbarte Studentenwohnheim hat weniger Glück. Alle 40 Bewohner werden in eine Wohnung im Obergeschoss gesperrt, während ihre Zimmer durchwühlt werden. Dann werden alle Studenten einzeln kontrolliert.

"Wer kommt aus Asil Schimali?" Das ist ein Dorf im Norden des Westjordanlandes, aus dem der von Israel liquidierte Hamas-Führer kommt. Der 26-jährige Bilal Malti meldet sich. Er wird sofort verhaftet, obwohl er weder politische noch verwandtschaftliche Beziehungen zum toten Hamas-Aktivisten hat. Ein weiterer Student, Muhammad Habani (24), räumt sein zerstörtes Zimmer auf. "Als ich meinen Ausweis aus dem Geldbeutel geholt habe", sagt er, "haben sie mir gleich meine 300 Schekel abgenommen". Das sind etwa 80 Euro, ein Drittel des durchschnittlichen Monatslohnes. Andere erzählen die gleiche Geschichte. Einige Soldaten verdienen sich während der Besatzung auf diese Weise womöglich ein kleines Vermögen.

Aus dem Nebengebäude dringen Hammerschläge. Dort brechen die Soldaten in ein Internet-Café ein, indem sich der Besitzer seit Beginn der Panzerinvasion versteckt hält. Er wird ebenfalls verhaftet. Abends sind im Fernsehen die Bilder von festgenommenen Palästinensern im Alter von 15-45 zu sehen, die sich an Hauswänden aufstellen mussten.

Peter Schäfer, Ramallah







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