Re: Keiner der Paranoiker kennt einen Russen ???

Geschrieben von Johannes am 28. Februar 2002 01:12:25:

Als Antwort auf: Re: Von Neurosen und alten Feindbildern geschrieben von Templar am 27. Februar 2002 10:41:25:

> Ich schätze mal keiner von euch Paranoikern hat auch nur einen gebürtigen
> Russen in seinem Bekanntenkreis, geschweige denn dass er Leute in Russland
> kennt oder Infos von vor Ort bekommen kann... So wie ihr über das russische
> Volk als solches herzieht, ohne jede Relativierung, ist schon fast der Tat-
> bestand der Volksverhetzung erfüllt..


Hallo Templar,

jetzt weiß ich nicht ganz, wen Du mit "Ihr" meinst. Sicher, viele Prophetien gehen von einem russichen Angriff auf. Aber ist es deshalb ein Angriff auf DIE Russen an sich, wenn man diese Szenarien einmal durchdenkt und mit anderen vergleicht bzw. zusammensetzt?

Falls ich für Dich zum "Ihr" dazugehöre, dann möchte ich Dir sagen, daß ich derzeit die besten (d.h. für mich wertvollsten) privaten Kontakte zu russisch sprechenden Leuten habe, nicht zu Deutschen. Sie sind meist aus der Ukraine, teils auch aus Rußland direkt oder Weißrußland, Kasachstan, Georgien, sie kommen regelmäßig in unsere Kirchengemeinde.

Und da Du in einem anderen Beitrag von dem gestiegenen Lebensstandard DER Russen gesprochen hast ("jeder 2. hat einen Fernseher"), dann möchte ich Dich doch einmal kurz fragen, ob Du Dir wohl denken kannst, warum diese Russen (russisch sprechenden Leute), die ich kenne, hier sind?

Ich kenne sie ja inzwischen etwas näher und war überrascht, wie billig das Wohnen in der Ukraine zu scheint: Umgerechnet 60,00 DM Monatsmiete für eine kleine Wohnung für eine 4-köpfige Familie. Super? Nein, leider nicht, denn eine normaler Arbeiter verdient (wenn er denn Arbeit hat!) nicht viel mehr. Und was bleibt da für die Familie übrig? Nichts, Du sagst es. Also gehen viele zur Schwarzarbeit ins Ausland, um irgendwie ihre Familien durchzubringen.

Eine Frau hat 4 Monate lang jede Woche über 50 Stunden auf einer Baustelle geputzt und in einer Art Notunterkunft gewohnt, um Geld zu sparen. Wieviel Geld hatte sie danach übrig? Fast nichts, denn der Chef hat ihr das meiste Geld nie ausgezahlt. Denn er weiß genau, daß sie nichts unternehmen kann. Eine Anzeige könnte zwar zur Verurteilung des Chefs führen, eine eventuelle Nachzahlung würde aber erstmal mit den Kosten für ihre Ausweisung/Rückreise verrechnet. Also putzt sie jetzt lieber schwarz für verschiedene Haushalte, damit ihre Kinder in der Ukraine leben können. 4 Monate gearbeitet, 4 Monate von der Familie getrennt - und nichts erreicht.

Ach ja, wie kommt das Geld in die Ukraine? Vorzugsweise wird es einer Vertrauensperson mitgegeben, am besten in Dollar. Warum überweist Ihr es nicht, habe ich naiv gefragt. Entsetzter Blick, aber gar nicht mal wegen der Nachweisbarkeit von solchen Zahlungen: Einer Bank in der Ukraine das Geld anvertrauen? Ob ich nicht wüßte, daß da überall die Mafia drinstecke? Heute mache die eine "pleite", morgen die andere, und so würde man sein ganzes Geld verlieren.

Hast Du eine Ahnung, was es für eine Mutter heißt, ihre Kinder mehrere Monate lang allein zu lassen? In ein Ausland zu gehen, wochenlang zu putzen und dann immer noch kein Geld zur Familie schicken können? Aber tapfer weiterarbeiten, weil man ja sonst keine Möglichkeit hat?

Sicher, es mag reiche Leute geben oder solche, die den ein oder anderen "Zusatzverdienst" haben, aber so etwas wie eine vernünftige deutsche Sozialhilfe und Arbeitsmöglichkeiten kennt man nicht. Vertrauen in die Banken oder die Polizei besteht auch kaum. DAS sind die Verhältnisse, wie ich sie kennengelernt habe. Allerdings auch, was die Christen betrifft, mit einer Herzlichkeit und Gastfreundschaft, wie man sie hier kaum findet.

Der Osten ist also meiner Ansicht nach wirklich nicht mit dem Westen vergleichbar. Wir sind hier meist satt und wohlgenährt und beschweren uns, wenn das Arbeitsamt uns eine zu lange Fahrzeit zumutet. Für eine ungewisse Zukunft zur Schwarzarbeit ins Ausland zu gehen, um die Familie überhaupt ernähren zu können, das können wir uns kaum vorstellen. Ich vor einem Jahr auch noch nicht, aber inzwischen habe ich mehr zu den dortigen Verhältnissen erfahren.

Möchtest Du für solche Völker, die in diesen Bedingungen leben, wirklich garantieren, wie sie ragieren, wenn ihnen ein starker Mann ein Feindbild klarmacht? Sorry, aber gerade dadurch, daß ich einige aus dem Osten kenne, kann ich mir solche Szenarien mi einem starken Mann an der Spitze vorstellen. Und deswegen bin ich auch dafür, diesen Szenarien nicht auszuweichen, sondern jeder sollte sich fragen, was er konkret tun kann, um die Zukunft zu verbessern und für sich und sein Umfeld sicherer zu machen. Nicht deshalb, weil keine Gefahr bestünde, sondern eben deshalb, weil sie besteht - aber damit sie nicht eintrifft.

Viele Grüße

Johannes (Abtlg Völkerverständigung)

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