Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen

Geschrieben von Wurzl am 20. Februar 2002 23:33:45:

Osama Bin Laden, CNN, Nostradamus und die Zahl Elf: Jede Verschwörungstheorie ist eine Therapie ohne Aussicht auf Heilung

Von Holger Kreitling

Eigentlich logisch: Alles führt zu allem, irgendwann. Diversen Verschwörungstheorien zufolge war George W. Bushs Aufstieg mit Geld der Dynastie Bin Laden erkauft, es geht um eine Finte, die eine Finte verdeckt, die eine Finte verdeckt. Osama Bin Laden ist außerdem eine Marionette des britischen Geheimdienstes, der die geopolitische Herrschaft zugunsten des britischen Kapitals umlenken will; der Rothschild-Clan (London) gegen die Rockefellers, denen das World Trade Center gehört.
Und natürlich haben Politiker und Öffentlichkeit nicht wissen wollen, was bekannt war: Ein gewisser Sollog, der neue Nostradamus, verkündete angeblich 1997 in der Prophezeihung 902, zwischen dem 2. September und dem 16. September 2001 gebe es einen "big bang in the big building". In New York. Sollog hatte bereits Lady Dianas Unfall sowie den Unabomber vorausgesehen.

Nostradamus selbst, der französische Seher aus dem 16. Jahrhundert, hatte, ebenso wie Bibel-Ausleger, den Weltuntergang für den 11. September 1999 datiert, zwei Jahre zu früh. Seit den Anschlägen kursiert die neue Nostradamus-Auslegung, er habe natürlich doch den 11. 9. 2001 gemeint.

Im Vakuum der anhaltenden Bestürzung und der weltweiten Ratlosigkeit gehen Verschwörungstheorien auf wie Hefeteig im Backofen. Weil wir so wenig über die Urheber und ihre Hintergründe wissen und der Islam als dunkle Bedrohung am Horizont aufzieht, ist Paranoia die psychische Reaktion; eine anders geartete, kathartische Betrachtungsweise auf das Unfassbare sind Witze. Weil die Sinnstiftung der Verschwörungstheorie eine heilende Wirkung zeigt - die Unordnung der Welt wird aufgelöst -, ist jeder Hinweis auf Vernunft zwecklos.

Die Muster von rechten wie linken Verschwörungstheorien sind die gleichen. Was offensichtlich ist, kann gerade deshalb nicht wahr sein. Jede Erklärung ist Teil einer Desinformation. Sie sind überall, und sie haben uns in der Hand. Freimaurer. Illuminaten. Das internationale Judentum. CIA. Die Loge P2. Bin Laden als Verschwörer, Bin Laden als vorgeschobenener Verschwörer.

E-Mails warnen zum Beispiel vor den CNN-Bildern applaudierender Palästinenser, die keineswegs aktuell nach dem Anschlägen, sondern bereits 1991 aufgenommen worden seien. Dubiose brasilianische Bänder werden angeführt, die ein ungenannter Urheber bei Freunden gesehen habe. Das passt: Die Amerikaner verschweigen, dass Aliens seit 50 Jahren unter uns leben, also manipulieren sie auch die Medien.

Es geht um Glauben als Ersatzhandlung. Das Internet ist das ideale Biotop dafür, denn alle Information bleibt in der wuchernden Struktur offen und zugleich verborgen. Verschwörungstheorien haben Konjunktur, weil die Postmoderne lehrt, wie Information und Glaube inklusive gleichzeitiger Distanzierung möglich sind. Das Denken ist ein spielerischer Akt: Elvis lebt. Jim Morrison lebt. Und Paul McCartney ist tot.

So entsteht eine Ästhetik, die sich glaubhaft als Systemtheorie tarnt. Jede Verschwörungsfantasie vermischt Fakten und Fiktionen mit Hilfe einer verqueren Logik, die in sich schlüssig ist. Und die Chaostheorie liefert die wissenschaftliche Superverschwörungserklärung: Wenn ein Schmetterling einen Sturm auslösen kann, dann wird Lee Harvey Oswald ja wohl nicht der einzige Mörder John F. Kennedys gewesen sein.

Die Realität wird gelesen wie ein Roman, in dem alle Bausteine aufs Schönste zueinander passen. Die folgenreichste Verschwörungstheorie, die "Protokolle der Weisen von Zion", entstanden nicht umsonst aus mehreren literarischen Quellen.

Der Schriftsteller Robert Anton Wilson, der mit seinen Büchern die Illuminaten als Pop-Mythos wiederentdeckte, verweist gerne auf die Verwandtschaft von Verschwörungstheorie und Religion. Gemeinsam ist beiden ein Faible für Zahlenmystik. Die heilige Zahl der Illuminaten, die als Superverschwörer hinter allen Verschwörungen stecken, ist die 23, und wer will, findet sie in der Quersumme des Anschlagsdatum vom 11. 9. 2001. Im Internet glauben Zahlenjünger derzeit lieber an die Zahl 11. Eine E-Mail kursiert mit einem Rechenexempel: Der 11. 9. hat die Quersumme 11, es war der 254. Tag des Jahres (Quersumme 11), es verbleiben 111 Tage bis zum Ende. Und so weiter. Die Verschwörungslogik findet Beweise, weil sie welche finden will, um sich selbst zu bestätigen.

Nostradamus ist derzeit der am meisten verwendete Begriff bei der Suchmaschine "Google". Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen, sondern im Kopfe des Betrachters. Darin liegt kein Trost.



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