Was ist los in Moskau (aus dem Wassermannforum)
Geschrieben von MP42 am 29. Januar 2002 17:59:58:
Geschrieben von Freddie am 29. Januar 2002 10:13:57:
Als Präsident Vladimir Putin als Nachfolger Boris Jelzins gewählt war, atmete
Europa auf: Endlich bestand die Aussicht, dass der russische Bär kalkulierbar
werde - wirtschaftlich, politisch und nicht zuletzt militärisch. Die wilde
Übergangszeit vom Sowjetreich zu einem demokratischen Russland war
abgeschlossen und der neue Herr im Kreml erschien als Garant auf dem Weg zu
einer russischen Demokratie und einer verlässlichen Zusammenarbeit mit Europa.
Dass in Tschetschenien immer noch Blut floss und von Greueltaten russischer
Soldaten gegen die Bevölkerung berichtet wurde, nahm man stirnrunzelnd zur
Kenntnis und hoffte, den neuen Freund in Moskau zu friedlicherem Umgang mit den
Tschetschenen überreden zu können, die er barsch als "Terroristen" einstufte.Geradezu rauschhaft wurde die Beziehung zwischen Bush & Co. und Präsident Putin
nach dem 11.September, als er in den Anti-Terror-Chor einstimmte. Hatte er in
Tschetschenien nicht immer schon gezeigt, wie man mit Terroristen umgehen
müsse? Seine Kritiker verstummten und fragten sich insgeheim, ob er nicht
tatsächlich recht hatte. Alles war plötzlich möglich - sogar die Kündigung des
ABM-Vertrages durch Bush, des wichtigsten Abkommens über den Rüstungsstopp
atomarer Raketen, ohne dass Putin deshalb zürnte. Noch Monate vorher drohte das
einseitige Vorgehen Washingtons zum Stein des Anstoßes zu werden und den
westöstlichen Frühling mit einer Frostperiode zu belasten.Doch der Mann, den die Europäer, vor allem die Deutschen, so gerne in ihr Herz
schließen würden, sorgt immer wieder für Irritationen. Eine davon ist sein
Umgang mit der Pressefreiheit: Seit einigen Tagen hat Russland keinen vom Staat
unabhängigen Fernsehsender mehr. TW-6 war der letzte, der noch übrig geblieben
war. Ihm schalteten die Behörden in der Nacht zum 22.1.01 während einer
talkshow den Strom ab. Am nächsten Tag waren nur mehr Sportsendungen, Reklame
und Schwanensee zu sehen. Offiziell heißt es, der Sender habe Bankrott gemacht.
Deshalb habe Presseminister Lessin aufgrund einer Gerichtsentscheidung die
Schließung des Senders angeordnet, der zu 75 % dem ins Exil geflohenen Boris
Beresowskij gehört, einem der sogenannten Oligarchen aus der Jelzin-Zeit. Ein
anderer, der zu dieser Kaste der schnell reich und mächtig Gewordenen gehörte,
ist ebenfalls ins Ausland geflohen: der Geschäftsmann Vladimir Gussinskij. Auch
er hatte einen eigenen Fernsehsender, der dem Staat zum Opfer fiel: NTW, so
hieß er, wurde von dem halbstaatlichen Gaskonzern Gazprom geschluckt und
berichtet seither nur mehr Kremlfreundliches. Wenige Monate vor der
Gleichschaltung von NTW hatte der Staat auch den ersten
Fernsehsender "Öffentliches Russisches Fernsehen" (ORT), an dem wiederum
Beresowskij beteiligt war, verstaatlicht.Im Kreml versichert man zu all dem treuherzig, es habe sich nur um
wirtschaftliche Entwicklungen gehandelt. Doch Insider berichten vom Gegenteil.
Sie glauben nicht daran, dass für die Schließung von TW-6 wirtschaftliche
Gründe eine Rolle spielten, da die staatlichen Fernsehsender ORT und RTR weit
höher verschuldet sind als es beispielsweise TW-6 war. Hauptaktionär
Beresowskij hält das Ganze für einen politischen Racheakt oder auch eine
vorbeugende Maßnahme: Der Sender habe einen Film über die Hintergründe der
nächtlichen Explosionen in zwei Moskauer Wohnblöcken im September 1999
vorbereitet. 250 Menschen starben damals. Der Verdacht fiel auf
tschetschenische Terroristen. In dem Fernsehfilm von Beresowskijs Sender werde
der russische Geheimdienst FSB verdächtigt, an den Sprengungen beteiligt
gewesen zu sein, die entscheidend dafür waren, dass die Russen den Krieg gegen
Tschetschenien unterstützten, den der damalige Ministerpräsident und
Präsidentschaftskandidat Putin neu entfacht hatte. Man war davon überzeugt,
dass man gegen den "tschetschenischen Terror", der nun auch Moskau zerstöre,
massiv vorgehen müsse.Jetzt werden die Russen nicht mehr durch kremlkritische Fernsehberichte
verunsichert. Damit sie nicht aus Langeweile plötzlich kritische Bücher lesen,
kümmert sich die Jugendorganisation "Gemeinsam gehen" nun auch um die Lektüre
des Volkes: Kürzlich wurde eine Aktion angekündigt, bei der Bücher "schädlicher
Autoren" gegen die eines "nützlichen" Schriftstellers umgetauscht werden
sollen - an 30 Stellen der Stadt, wie die FAZ berichtet. Diese Jugendbewegung
soll angeblich 40.000 Mitglieder zählen und machte nach dem
Zeitungsbericht "zum ersten Mal im Mai vergangenen Jahres" auf sich aufmerksam,
als sie mehr als 11.000 Jugendliche aus verschiedenen Städten Russland auf den
Roten Platz transportierte, wo diese, T-Shirts mit dem Porträt des Präsidenten
tragend und "Putin!" und "Russland!" skandierend, den ersten Jahrestag der
Amtseinführung des russischen Staatsoberhaupts feierten. Auch hatten sie schon
einmal gegen den im Kreml verhassten Ex-Oligarchen Gussinskij demonstriert. Zu
den nützlichen Büchern, die sie propagieren, gehört neuerdings auch die
Lebensgeschichte Putins. Dafür wurde Karl Marx auf den Index gesetzt.Bewegt sich das neue Russland schon wieder rückwärts - in Richtung Personenkult
und staatliche Gleichschaltung, die auf Dauer mit demokratischen Verhältnissen
unverträglich wären? Die Freunde Russlands und Putins würden dies zutiefst
bedauern.
- Re: Was ist los in Moskau (aus dem Wassermannforum) TWIX 29.1.2002 19:19 (1)
- Re: Was ist los in Moskau (aus dem Wassermannforum) katzenhai2 31.1.2002 04:31 (0)