Methoden der Vorhersage in Literatur und Alltag
Geschrieben von H.Joerg H. am 11. November 2004 17:30:42:
Tag zusammen
In Ausgabe 22 des Magazins "Nautilus -Abenteuer und Phantastik" erschien Anfang des Jahres ein Spezial zum Thema Orakel und Wahrsagekünste unter dem Titel "Der Blick in die Zukunft - Vorhersagen, Orakel und Medien in der phantastischen Literatur".
Ich habe diesen Artikel nicht "abgeschrieben", jedoch (einige) Auszüge daraus verwand zitiert, und mit eigenem vermengt. Im Internet findet man die Publikation "Nautilus" u.w. unter www.abenteuermedien.de
Ich finde den Artikel als einen lehrreichen, für alle "Wissenden" und für die "auf den Leim Geher" in Sachen Techniken der Prophetiekunst.
Der Artikel behandelt weniger die Orakel und Zukunftsdeutung z.B. der alten Griechen, mit ihren ausgeprägten Orakelstätten, vielmehr wirft er einen Blick hinter die Kulissen der phantastischen Literatur, wobei nur wenigen Romanen und Erzählungen der Blick in die Zukunft wirklich zugrundeliegt. Das als "Dark Fantasy" benannte Genre bietet hierbei mehr oder weniger als das Leben, was den ersehnten Blick in die Zukunft angeht; gleichgültig ob es sich dabei um einen Bestsellerautor wie Dean Koontz, oder den kaum bekannten österreichischen Phantasten Fritz von Herzmanovsky-Orlando handelt.
Ein Autor dieser Zunft der phantastischen Literatur hat zunächst zwei Möglichkeiten, seine Leserschaft wie seinen Helden an einem bestimmten Punkt der Geschichte in die Zukunft blicken zu lassen. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass er ausdrücklich eine Situation erschafft, in der der Held mit einem Orakel konfrontiert wird. Dies kann z.B. durch Befragen eines Mediums, durch Runenwerfen oder Handlesen geschehen, wichtig dabei ist die Ausdrücklichkeit, in der geschildert wird, wie der Protagonist etwas von der Zukunft erfährt.
Die zweite Möglichkeit geschieht durch erzählerische Tricks und Techniken des Autors, seinem Helden und dem Leser stillschweigend und fast unmerklich einen Blick in die Zukunft zu gestatten, ohne dabei ein Medium, einen Magier oder Propheten auftreten zu lassen. Dies geschieht mit der Erzähltechnik, wie geschickt ein Autor vorgeht, in dem er Hinweise auf das Kommende streut, und den Leser bis ans Ende seiner Geschichte einem Spannungsbogen überlässt.
So unterscheidet man zwischen der expliziten und der impliziten Möglichkeit der Zukunftsdeutung - welche durchaus auch für angewandte Techniken heutiger "Kartenleger" und "falscher Propheten" außerhalb der Literaturszene interessant erscheint, um der geneigten Kundschaft die Taschen vollzulügen, und um sich ihrerseits die Taschen zu füllen.
Meist ist es so: Der Held sucht einen weisen, vertrauenswürdigen Magier auf. Dieser legt Karten, schaut in seine Kristallkugel, und verkündet, was sich in Kürze abspielen wird, indem er z.b. in die Gedanken des Bösewichtes schaut. Nun verrät er dem Helden die Begleitumstände des zukünftigen Ereignisses, und natürlich den genauen Zeitpunkt des Eintreffens. Der Held ist freudig erregt, zieht von dannen um das Übel zu vereiteln, und das Böse zu beseitigen.
Dies ist eher eine mittelmäßige Vorgehensweise in Sachen phantastischer Romangestaltung. Mit hohem Anspruch hat dies wenig zu tun. Und so ist ein Autor versucht, eine banale Vorhersage in zukünftige Ereignisse tiefengründiger zu gestalten und zu umschreiben. Hier muss die Unwägbarkeit greifen! Der Leser darf sich nie zu sicher sein, ob sich eine Vorhersage tatsächlich erfüllt. Um die erwünschte Spannung aufzubauen, wird der Erzähler wenigstens sieben Aspekte zu vereinen suchen und um die prophezeiten Ereignisse kreisen lassen, und jeder einzelne dieser Punkte wird die anfangs banale Ausgangssituation zu einem großen Phantasie-Erlebnis vereinen helfen.
1.Aspekt:
Der Prophet
Selbstverständlich sucht sich unser Held nur einen glaubwürdigen Seher aus. Doch schon mit kleinen Tricks macht man aus dem weisen Magier eine zwielichtige Figur.
Vielleicht ist er ja dem Alkohol einwenig zugeneigt, und bringt im Rausch seine Visionen durcheinander? Oder das genaue Gegenteil ist der Fall, er ist nüchtern ein Trottel, der aber, wie der Volksmund behauptet, gerade als Betrunkener die Wahrheit sagt? Hat der Seher bereits einmal gelogen, gerät der Leser in folgende Zwickmühle: Ist der Prophet ein notorischer Lügner, oder sagt er gerade jetzt die Wahrheit? Ist er Opfer des Sprichworts:"Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht"?2.Aspekt
Der Fragende
Wer eine Prophezeiung nötig hat, ist immer in einer schwächeren Position. Geht es gar ums eigene Leben des Helden, ist er zu konfus, um auf Einzelheiten der Botschaft zu hören. Auch der Umstand seines Charakters oder Unerfahrenheit kann fälschlicherweise dazu führen, dass der Held nicht alles kapiert, was ihm der Prophet ohne jeden Hintergedanken prophezeit. Täuschungsabsichten verfolgt hier nur der Autor, denn der Leser soll ja die Wahrsagung richtig verstehen, der Held jedoch nicht.
3.Aspekt
Die Umstände
Selten ereignen sich Vorhersagen mittags um zwölf bei schönstem Wetter. Geeigneter sind da doch ein tosendes Meer, flackerndes Kerzenlicht oder der düstere Wald. So kann man Auge und Ohr in einer Orakelsituation täuschen, obwohl es doch gerade in solch einem Augenblick auf Ruhe und Besinnung ankäme, um aus der Vorhersage die richtigen Schlüsse zu ziehen. Deshalb sollten Angst, Aufregung oder Erschöpfung als Stilmittel dienen, auch dann Doppeldeutungen und Täuschungen
einzubringen, obwohl der Wahrsager als auch sein Zuhörer eigentlich ganz vernünftige Zeitgenossen sind.4.Aspekt
Die Mittel der Vorhersage
Als oberste Regel gilt hier folgendes zu beachten, was den Unterschied zwischen Realität und Fiktion betrifft: gerade Methoden, denen wir im Leben vertraut sind, erscheinen uns als Vorhersagen in der Literatur als nicht sicher genug. Mittel jedoch, die wir im Leben niemals glauben würden, erscheinen dagegen im Schreiben von Vorhersagen als das Salz in der Suppe. Im Leben trauen die Menschen heutzutage, wenn überhaupt, gerade mal noch ihren eigenen Träumen. Beim Lesen braucht es aber den Spannungsmoment, wenn geheimnisvolle fremde Zeichen, krächzende Vögel, ein wehender Vorhang dem Helden Unheil verkündet. Dies nutzt der Autor, um das angespannte Verhältnis von Glauben in der Literatur und Zweifeln im täglichen Leben für seine Täuschungsabsichten zu verwenden.
5.Aspekt
Zeitliche Fristen
Wenn ein Ereignis auf den dreißigsten Tag vorhergesagt wurde, tritt es entweder ein oder nicht - aber niemals am 27. oder 35. Tag! Hier scheinen einem Autoren die Hände gebunden. Mehrmals in unserer Zeitrechnung änderte man den Kalender, so unter Papst Gregor XIII, welcher gegen Ende des 16.Jhdt. elf Tage aus dem katholischen Kalender streichen ließ, weil die Erde bei ihrem Lauf um die Sonne gegenüber den veralteten Kalendern elf Tage vorgegangen war. So ging man am 4.Oktober 1582 abends zu Bett und wachte am 15. Oktober morgens auf. In den protestantischen Ländern Deutschlands wurde jene Kalenderreform über hundert Jahre später am 1.März 1700 nachgeholt, so dass man im 17.Jhdt. nur wenige Kilometer reisen musste, um ein absolut neues Datum zu haben. Ebenfalls lässt sich so auch nicht auf die Natur vertrauen. Lautet eine Prophezeiung etwa:" Noch zwanzig Mal wird die Sonne dein Land neu bescheinen bis...", so wird es kompliziert, wenn während diesen Zeitraum eine Sonnenfinsternis fällt. So kann ein einziger Tag alles entscheiden.
6.Aspekt
Frühere Bestätigung
Ein Autor wird immer vor einer wichtigen Zukunftsschau darauf hinweisen, auf welche Art sein Prophet schon einmal vorhersagte. Am naheliegendsten eignen sich hier frühere bereits eingetroffene Prophezeiungen. Hinterlistiger aber ist es, das die früheren Vorhersagen zwar eingetroffen, doch die Begleitumstände zu verwoben und abstrakt erscheinen, als dass sich das ehemals orakelte ebenso auf Zufall begründen ließe, und so auf wahre übernatürliche Künste des Propheten schließen lassen könnte.
7.Aspekt
Die Botschaft
Die Prophezeiung muss immer aus einer mündlichen oder schriftlichen Mitteilung beruhen und bestehen, gleichgültig wie man an sie herankommt. Der Norm entsprechend , ist eine Botschaft vieldeutig, oft in Versen, voller doppeldeutiger Wörter, häufig auch nur im Fregment erhalten. Was der fragende Held scheinbar sachlich in diese teils nur halb entzifferbaren Bruchstücke hineininterpretiert, ist weniger objektiv, als alle zuerst glauben wollen...
Mein Fazit:
In Literatur wie im realen Leben, ist der Umgang der "Helden" mit "Meistern" ihres Fachs - sei es durch einen Autor für phantastische Literatur wie für den Propheten im Alltag und den Fragenden um ihn, immer auch eine Frage des tiefen Vertrauens. Alle Beteiligten sollen sich auf einer Ebene begegnen dürfen. Der Fragende im Alltag muss dem Vertrauen entgegenbringen, von dem er eine Lösung oder Entschlüsselung für seine Probleme erhofft, der Seher muss sich seiner erhöhten Sichtebene herab beugen, um der Wahrheit willen seinem Gegenüber verpflichtet, auch Wahrheit zu verkünden, und persönliches Schicksal vermeiden helfen.
Es grüßt
Jörg
- Re: Methoden der Vorhersage in Literatur und Alltag MPW 11.11.2004 23:17 (0)