Russische Spezialeinheiten: Manöverkritik

Geschrieben von Swissman am 08. September 2004 13:42:48:

Als Antwort auf: Beslan: Sturmbefehl verheimlicht? Brisanter NZZ-Bericht geschrieben von Micha aus dem Süden am 07. September 2004 15:06:32:

Hallo Micha,

>Ein NZZ-Bericht erklärt die ganze Geheimnistuerei und den chaotischen Ablauf ziemlich einleuchtend: weil die örtlichen Sicherheitskräfte (bis hin zur ossetischen Abteilung des Inlandsgeheimdienstes) selbst Kinder und Frauen unter den Geiseln hatten und sich die Zivilbevölkerung (Angehörige der Geiseln) schon abgesprochen hatte, gegen einen Sturmangriff mit ihren eigenen Körpern einen Schutzwall um die Schule zu bilden, befürchtete Putins Stab, die ossetischen Kräfte könnten sich mit der Bevölkerung solidarisieren und gegen die eigenen Sturmtruppen stellen.

Ich erinnere mich, dass bereits einen Tag vor der Erstürmung in einer Nachrichtensendung (ich denke, das müsste in den RTL-Spätnachrichten gewesen sein) mindestens ein bewaffneter Zivilist gezeigt wurde, der sich in Richtung Schulhaus pirschte. Der Kommentator wies ausdrücklich darauf hin, dass bewaffnete Zivilisten in Stellung gegangen seien... - Wogegen solange nichts einzuwenden ist, als diese sich darauf beschränken, den Belagerungsring zu verstärken, um zu gegebener Zeit allenfalls flüchtenden Terroristen den Fangschuss zu verpassen.

Auf keinen Fall dürfen die Leute sich aber am eigentlichen Sturm beteiligen: Die Spezialeinheit muss sich bei ihrem Angriff darauf verlassen können, dass jeder bewaffnete, der nicht ihre Uniform trägt ein Feind ist, der umgehend liquidiert wird!

>Deswegen wurden die örtlichen Sicherheitskräfte nicht von Putins Stab informiert, deswegen Sekunden nach dem ersten Knall die Kampfhubschrauber über der Schule, deswegen das ganze Chaos und wegen des völlig daneben gegangenen Dramas, was sich dann abspielte, auch die ganze Geheimnistuerei wie zu Sowjetzeiten: Verfolgung kritischer Journalisten; Abwehr kritischer Fragen usw.

Ich schätze die NZZ wirklich sehr, aber hier verfolgt sie meiner Meinung nach ein Phantom: Ich glaube durchaus, dass ein Zugriff geplant war (alles andere wäre ja auch hochgradig kriminell), aber nicht zu diesem Zeitpunkt. - Laut dem Vermittler Leonid Rochal trugen die Männer der Spezialeinheiten Alpha und Vympel zum Zeitpunkt des Angriffes noch nicht einmal ihre schussicheren Westen, was auch die hohen Verluste erklärt (die Zahl schwankt, je nach Quelle, zwischen zehn und zwanzig Mann).

Leonid Rochal hat sich in Tschetschenien den Ruf eines engagierten, absolut unparteiischen Kinderarztes erworben, und ist im Kreml aufgrund seiner Angewohnheit, die Wahrheit zu sagen, durchaus nicht sonderlich beliebt. Wenn Rochal sagt, dass die Männer ihre Westen nicht trugen, dann glaube ich dies, solange man mir nicht das Gegenteil nachweist (Übrigens ein interesantes Detail am Rande: In meinem Traum trug ich, bzw. der Mann, durch dessen Augen ich "sah", ebenfalls keine schussichere Weste - was zu diesem Zeitunkt natürlich noch niemand, die Spezialeinheiten selbst eingeschlossen, wissen konnte).

Allerdings bedeutet dies, dass jemand in der Führung fahrlässig gehandelt hat: Waffenstillstand hin oder her, der Innenhof, aus dem man die Leichen bergen wollte, ist perfekt für einen Hinterhalt geeignet - man hätte die Männer daher auf gar keinen Fall ohne adäquate Schutzausrüstung losziehen lassen dürfen! Man hätte vielmehr damit rechnen müssen, dass der Waffenstillstand möglicherweise eine Falle sein könnte... Idealerweise, das Einverständnis der Terroristen vorausgesetzt, hätte man die Männer daher sogar im Schutz gepanzerter Fahrzeuge vorgehen lassen müssen.

>Dazu passt auch ein deutschlandfunkbericht von heute morgen, dass die Geiselnehmer laut Aussagen der geiseln sehr wohl klare Forderungen hatten (Freilassung von inhaftierten Gesinnungsgenossen), aber keine Reigeirungsstelle ansprechbar war für Verhandlungen.

Nach meinen Quellen stellten die Geiselgangster zwei Forderungen: Den bedingungslosen, vollständigen Abzug der Russen aus Tschetschenien und die sofortige Freilassung sämtlicher Gefangener. Zudem müsse der Kinderarzt Leonid Rochal eingeflogen werden, um (wie bereits bei der Geiselnahme im Nordost-Theater) als Vermittler zu fungieren. Verhandlungen seien erst nach seinem Eintreffen und ausschliesslich über ihn akzeptabel.

Mit Ausnaheme der Einsetzung Leonid Rochals als Vermittler, bei der es sich um eine blosse Formalität handelte, waren diese Forderungen unerfüllbar, und das war den Terroristen zweifellos von vornherein bewusst. Nach Rochals Eintreffen in Beslan wurde, ausschliesslich per Telefon, verhandelt. Seitens der russischen Einsatzleitung wurde den Terroristen ein Fahrzeug und freier Abzug angeboten, was von den Geiselnehmern abgelehnt wurde.

Seitdem die ersten Geiseln freigelassen wurden, wusste man zudem, dass die Terroristen schon nach kurzer Zeit ihre Masken abgenommen hatten - es war ihnen demnach völlig gleichgültig, ob die Geiseln ein Phantombild von ihnen erstellen könnten: Diese Leute hatten bereits mit dem Leben abgeschlossen und gar nicht die Absicht, die Aktion lebend zu überstehen!

Zu verhandeln gab es unter diesen Bedingungen selbst formal so gut wie nichts. Wobei man sich ohnehin bewusst sein muss, dass Verhandlungen mit Geiselnehmern nichts weiter als ein taktisches Mittel sind, um Zeit und zusätzliche Informationen für die Vorbereitung des bewaffneten Zugriffes zu gewinnen (gewöhnliche Kriminelle, in der Regel (geistig minderbemittelte) Einzeltäter, können durch speziell geschulte Psychologen mitunter zur freiwilligen Aufgabe gebracht werden. Bei Terroristen ist diese Chance naturgemäss nicht gegeben).

Ein Staat kann und darf auf gar keinen Fall, egal unter welchen Umständen, auf die erpresserischen Forderungen einer Bande blutrünstiger Terroristen eingehen (Ich bin bekanntermassen durchaus kein Freund von Putin, aber in diesem Punkt teile ich seine Haltung vollkommen.). Wäre man nämlich auf die Forderungen eingegangen, hätte man zwar möglicherweise alle Geiseln retten können, aber um welchen Preis?! - Es wäre in diesem Fall vorprogrammiert, dass sich vergleichbare Aktionen wiederholen würden, wobei die Forderungen jedes Mal noch höher und unverschämter würden!

Dieses Mal forderten sie "nur" den Abzug aus Tschetschenien, das nächste Mal den ganzen Nordkaukasus, das übernächste Mal vielleicht Tatarstan, dann ein Wodka-Verbot, gefolgt von Burqua-Zwang für russische Frauen und abschliessend noch die Beschneidung und Konvertierung aller Russen...! Letztlich hätte man überhaupt nichts gewonnen, aber alles verloren: Man könnte konsequenterweise ebensogut die Bedingungslose Kapitulation erklären.

Dass Putin den Befehl zur Erstürmung geben würde, war daher von vornherein klar (ich hätte ihn an seiner Stelle eingestandenermassen ebenfalls gegeben!). Fraglich war einzig und allein, wie und wann der Zugriff erfolgen würde.

Was den ersten Punkt betrifft, so hätte ich ganz klar den abermaligen Einsatz von Gas favorisiert. Vorausgesetzt, die Feuerwerker könnten garantieren, dass sich die Sprengsätze durch einen EMP gefahrlos neutralisieren lassen, ohne dadurch eine Detonation auszulösen, so wäre es möglicherweise klüger gewesen, mittels konventionellen Sprengstoffes einen EMP auszulösen, um dann das Gebäude mit leichten Infanteriewaffen und Scharfschützenunterstützung zu stürmen.

Klar war auch, dass der Zugriff am Freitag, allerspätestens in der Nacht auf Samstag erfolgen MUSSTE: Bekanntlich haben die Terroristen ihren Geiseln Nahrungsmittel und Trinkwasser vorenthalten - Nach menschlichem Ermessen wären spätestens in der Nacht auf Samstag die ersten Geiseln elendiglich verdurstet. Die Einsatzkräfte mussten also auf jeden Fall vorher stürmen - je früher, desto besser. Das schnelle Eintreffen der Hubschrauber spricht durchaus dafür, dass bald nach erfolgter Leichenbergung gestürmt worden wäre.

Persönlich gehe ich davon aus, dass die Geiselgangster genau aus diesem Grund kein Wasser abgaben: Auf diese Weise konnten sie die Sicherheitskräfte dazu zwingen, zu einem Zeitpunkt zu stürmen, an dem ihre Kampfkraft noch vergleichsweise hoch war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Plan vorsah, eine Erstürmung zu erzwingen, um dann die Schule mitsamt allen Geiseln und der kompletten Spezialeinheit zu sprengen. - Ein wahrhaft satanischer Plan, der in dieser Form nicht, bzw. nur teilweise geklappt hat.

Da die Geiselnehmer während der Leichenbergung das Feuer auf eine Gruppe fliehender Geiseln eröffneten, wurden sämtliche Planungen, die zweifelsohne bestanden, hinfällig - man musste auf die neue Situation sofort reagieren und einen Notzugriff durchführen.

Wenn man bedenkt, dass die Spezialeinheiten, als es losging, improvisieren, und völlig ungeschützt ins Gefecht ziehen mussten, kann man sich vor dem Mut dieser Männer nur verneigen. So schrecklich der Blutzoll war, man sollte dabei doch nicht vergessen, dass die Mehrzahl der Geiseln überlebt hat! Ich kann mich daher der Kritik an den russischen Spezialeinheiten wirklich nicht anschliessen - wenn man bedenkt, dass ganz offensichtlich geplant war, sämtliche Geiseln zu ermorden, war die Aktion, den Umständen entsprechend, durchaus ein Erfolg.

mfG,

Swissman


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