Die Lust am Ende der Zeiten...
Geschrieben von H.Joerg H. am 01. Juni 2004 16:38:41:
Tag zusammen
Hier einige Passagen eines heute in meiner regionalen Zeitung (Nahe-Zeitung) erschienenen Artikels, mit bemerkenswerten Ein- und Ansichten sowie Einschätzungen über amerikanisches Christen-Verständnis:
Fundamentalisten auf dem Vormarsch - Einfluss religiöser Gruppen in den USA wächst
Flugkapitän Rayford Steele hat seine Boing 747 auf Auto-Pilot eingestellt. Vorgesehene Ankunftszeit in London: 6 Uhr. Alles läuft nach Routine, bis ihn eine Stewardess aus der Ruhe reißt. Sie berichtet dem Piloten, mehr als hundert Passagiere, darunter alle Kinder, seien gleichzeitig von Bord verschwunden. Der irritierte Kapitän fliegt sofort zurück nach Chicago. Dort erfährt er, dass überall auf der Welt Millionen von Menschen verschwunden sind.
So beginnt die Geschichte der Bestseller-Serie "Left Behind" von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, deren zwölfter und letzter Teil "Glorious Appearing" im Moment die US-Bestsellerlisten anführt.
Jeder fundamentalistische Christ in den USA versteht die Geschehnisse sofort zu deuten. Die Szene beschreibt den Beginn der Endzeit, wenn alle Gläubigen in den Himmel aufgenommen werden und auf der Erde sieben Jahre der Drangsal beginnen. In dieser Zeit kommt der Antichrist an die Macht, verspricht der Welt Frieden und Einheit. Er bezieht Quartier in Babylon (dem heutigen Irak) und schickt seine Armeen durch den ausgetrockneten Euphrat nach Israel. Dort kommt es im Tal von Armageddon zur letzten Schlacht mit Christus, der auf dem Tempelberg in Jerusalem zur Welt zurückkehrt, um ein tausendjähriges Reich zu errichten. La Haye und Jenkins bauen ihre Serie um die Endzeitprophetien der Bibel auf und übertragen die düstere Vision der "Geheimen Offenbarung" in die Jetztzeit. Der Antichrist benutzt die Vereinten Nationen, um eine Weltregierung zu schaffen.
Eine wirre Geschichte? Vielleicht - aber eine, die Millionen Leser in Amerika in ihren Bann zieht. Die "Left behind"-Bücher rühren an einem Bedürfnis, das in Amerika nach den Terroranschlägen vom 11.September noch ausgeprägter in Erscheinung tritt als schon zuvor: die Lust am Ende der Zeiten.
Mehr als jeder dritte US-Bürger denkt nach einer Umfrage des "Time"-Magazins "über das Ende der Welt nach", und 59 Prozent glauben, es werde so kommen, wie die Bibel es beschrieben habe. Diese Antworten überraschen nicht in einem Land, in dem sich fast jeder zweite Einwohner als "wiedergeborener Christ" bezeichnet und 36 Prozent die Bibel wortwörtlich begreifen....
Der Theologe Stephen Pothero, Autor des Buches "The American Jesus" hat beobachtet, dass "das Pendel eindeutig in Richtung eines düsteren martialischen Macho-Konzepts des Messias ausgeschlagen ist". Der amerikanische Jesus ist nicht mehr der langhaarige Gelehrte, sondern mehr ein kurz geschorener Marine, der mit dem Schwert gegen das Böse angeht, um seine tausendjährige Herrschaft zu errichten.
Ein Konzept, das keiner besser repräsentiert als der Fraktionschef der Republikaner im Repräsentantenhaus, Tom DeLay. Der Texaner macht kein Geheimnis aus seinem Glauben an das Ende der Zeiten. Die Fundamentalisten sehen in ihm einen Verbündeten, der die Zeit richtig, also biblisch, interpretiert. Etwa in einer Rede im April 2003: Auf dem Höhepunkt des Irak-Krieges sprach er davon, wie irakische Familien Stadt für Stadt verstehen, "was lachende Menschen in Kampfanzügen für sie erreicht haben". Tag für Tag wachten Kinder auf, "um ihr Leben in Gottes Freiheit zu verbringen."
Grundsätzlich lassen sich die christlichen Kirchen in den USA in zwei Lager einteilen: die traditionellen Volkskirchen auf der einen und die fundamentalistischen Gemeinden auf der anderen Seite. Fundamentalisten betrachten die Bibel als "fehlerfreies" Wort Gottes, das nicht interpretiert werden darf. Schöpfungsgeschichte und Apokalypse werden ebenso wörtlich verstanden wie die Wunder im Neuen Testament. Sie glauben, dass nur gerettet wird, wer Jesus Christus als seinen persönlichen Erlöser annimmt. Die katholische Kirche ist für sie eine Sekte. Andere Volkskirchen gelten ihnen als moralisch verweichlicht und inkonsequent. Mit rund 70 Millionen Anhängern stellen die Fundamentalisten einen erheblichen Einflussfaktor auf die amerikanische Politik dar.
(USA-Korrespondent Thomas Spang)