Re: Panem et circenses, nein, Folter und perverse Spielchen
Geschrieben von Marc Malbec am 08. Mai 2004 15:29:40:
Als Antwort auf: 4 Artikel zur Folter im Irak, geschrieben von franz_liszt am 08. Mai 2004 09:51:38:
Servus Franzl,
"Panem et Circenses", Brot und Spiele, das ist es womit man die Massen unterhält, damit sie sich nicht mit dem befassen, was wirklich wichtig ist.
Die neueste Nummer im globalen Colosseum oder Circus Maximus scheint mir das Thema "Irakische Folterungen". Sogar mitgefilmt haben sie, damit nur ja genügend Beweismaterial vorliegt, das man der größten Nation auf dem Globus zur Last legen kann.
Ich bin zwar alles andere als ein Experte in Sachen Kriminalität, aber von einem Bankräuber, Plünderer, Totschläger und Mörder, der sich selbst gefilmt hat, um anschließend vor Gericht seine Tat "in flagranti, vierfarbig und digital" präsentieren zu können, habe ich noch nirgends gelesen.
Die Sache Dutroux, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls gedreht wurde, ist etwas anderes, weil die Filme unter der Hand zu horrenden Preisen verhökert wurden und - wenn ich nicht irre - bis heute unauffindbar sind.
Aber im Knast von Saddam ist es zugegangen wie im Studio von Metro-Goldwyn-Mayer. "Ihr Auftritt, bitte, Mister Schwoazeneggahhh".
Die scheinen sich blöder angestellt zu haben wie bei "Verstehen Sie Spaß", weil in dieser Sendung die Kamera versteckt wird.
Was sich im Schlagschatten der auf typisch amerikanische Art und Weise von Sex, Crime und Perversion durchsetzten Gefängnis-Affäre abgespielt hat, und von niemandem wahrgenommen wird, steht in der israelischen Zeitung Ha´arez, die in bewundernswerter Weise Klartext spricht.
Vergesst Fallujah nicht
Von Orit Shohat - Ha’arez vom 28.04.04Während der ersten zwei Wochen des Monats April hat die amerikanische Armee Kriegsverbrechen in für diesen Krieg bisher nicht da gewesenem Ausmaß begangen. Nach den wenigen Medienberichten von dem, was dort geschah, wurden während dieser zwei Wochen etwa 600 Irakis getötet, etwa 450 davon Ältere, Frauen und Kinder.
Der Anblick enthaupteter Kinder, die Reihen toter Frauen und die schockierenden Bilder des Fußballstadions, das in ein vorübergehendes Grab für Hunderte der Toten verwandelt wurde, wurden alle in die Welt gesendet, allerdings nur von dem Al Jasira Netzwerk.
Während der Operation in Fallujah haben, laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen, die US-Marines sogar Krankenhäuser besetzt, um zu verhindern dass Hunderte der Verletzten medizinisch versorgt wurden. Scharfschützen feuerten von den Dächern auf jeden, der versuchte, sich zu nähern.
Dies war eine militärische Operation, von Marineinfanteristen ausgeführt, begleitet von F-16 Kampfflugzeugen und Angriffshubschraubern, unter dem Codenamen “Vigilant Resolve” [“Wachsame Entschlossenheit”]. Es war eine Vergeltung für die Tötung von vier amerikanischen Sicherheitskräften am 31. März. Während aber die Tötung der Wachen, deren Körper durch die Straßen geschleift und dann von einer Brücke gehängt wurden, in den Medien breiten Raum einnahm und so Geist und Herz auf die militärische Rache vorbereiteten, waren die Opfer der amerikanischen Vergeltung fast ein Militärgeheimnis.
Der einzige Schluss, der bislang von der wahllosen Tötung in Fallujah gezogen wurde, ist die Sperrung von Al Jasira aus der Stadt. Seit Beginn des Krieges haben die Amerikaner die Journalisten des Senders verfolgt - nicht weil sie Lügen berichten, sondern weil sie praktisch die einzigen sind, denen es gelingt, die Wahrheit zu berichten. Die Bush-Administration, mit der Kooperation der amerikanischen Medien, versucht, den Anblick des Krieges vor der Welt zu verbergen, insbesondere vor den amerikanischen Wählern.
Diese Woche haben die Amerikaner zum ersten Mal die Veröffentlichung von Bildern der Särge toter Amerikaner erlaubt, die nach Hause geschickt wurden. Bisher wurden solche Bilder verboten. Es wundert also nicht, dass die Umfragewerte Bushs besser als je sind, sogar obwohl die zahl in Irak im April getöteten Amerikaner auf 115 gestiegen ist.
Verhindert die Besetzung Iraks den Terrorismus, oder entzündet sie ihn? Wird die Zahl toter Soldaten - im Kontrast zur Zahl irakischer Opfer - eine Neueinschätzung zur Folge haben? Es ist klar, dass die Kriegsverbrechen Amerikas nicht den internationalen Gerichtshof in Den Haag erreichen werden. Heute setzt Amerika die moralischen Standards der Welt. Die USA entscheidet alleine, wer verurteilt wird, wer ein Terrorist ist, was ein legitimer Widerstand gegen Besetzung ist, wer ein religiöser Fanatiker ist und wer ein legitimes Ziel für Mord darstellt. So kommt es, dass vier irakische Kinder, die gelacht haben beim Anblick eines toten amerikanischen Soldaten, es verdient haben, auf der Stelle getötet zu werden.
Und die Regierung Sharons kann so eine bedeutende Autorität zitieren für die eigenen Aktionen, und es gibt keine sichtbaren Schranken für ihre Pläne, eine neue Sicherheitsordnung im Gazastreifen und in den besetzten Gebieten im Allgemeinen zu schaffen. Für die israelische Regierung ist es wichtiger, die Grenzen, die Amerika seinen Freunden setzt, nicht zu übertreten, als den Konflikt mit den Palästinensern zu lösen.
Die ethischen Dilemmata in Israel über die gezielten Tötungen müssen für die amerikanische Regierung lachhaft sein. Nach Fallujah können die Befehlshaber der Israeli Defense Force ruhiger mit ihrem Gewissen leben - und besonders mit dem Gewissen derer, die sich weigern, solche Operationen auszuführen. Die Eintonnen-Bombe, die auf einen Wohnblock in Gaza geworfen wurde, um Salah Shehadeh zu ermorden, die auch 14 Zivilisten getötet hat, ist fast wie Bonbons werfen verglichen mit der Zahl der Bomben, die die Amerika auf die Wohnhäuser der überfüllten Stadt Fallujah abwarfen. Und nebenbei hat auch dort der Kommandant der Marines gesagt, sie hätten ihr bestes getan, um die Verletzung von Zivilisten zu vermeiden. “Wir haben zu dieser Aktion unsere Erfahrung vom zweiten Weltkrieg, Korea, Vietnam gebracht… Man wird die Operation in Fallujah noch viele Jahre lang erinnern und studieren”, sagte er.
Was können die verwirrten Israelis von diesem zynischen Vergleich lernen? Ariel Sharon kann das Gefühl haben, dass er in der Sache von Sabra und Chatila einfach nicht verfolgt worden ist. Diejenigen, die gerne sagen, “die ganze Welt ist gegen uns”, werden lieber über das zweierlei Maß reden, die an Amerika und Israel angelegt werden in Bezug auf, z.B. die Zerstörung des Flüchtlingslagers in Jenin durch Israel. Aber jeder, der absolute und nicht relative moralische Prinzipien hat, kann zum Schluss kommen, dass wir nicht von den Amerikanern lernen sollten - nicht in Bezug auf den Konsum von Junk Food, nicht im Bereich der Menschenrechte, nicht einmal im Bereich von Demokratie und Redefreiheit.
Der praktische Unterschied sollte offensichtlich sein. Amerika ist eine Supermacht, die offenbar tun kann, was sie will, und sie kann sich jederzeit vom Krieg in Irak zurückziehen. Israel hat keinen Ort, an den es sich zurückziehen kann. Es muss hier bleiben, in der Nähe seiner Nachbarn - seiner Partner in Bezug auf das Land, auf das Klima und auf das Schicksal seiner Kinder. Deswegen hat jede Vergeltung, jede Racheoperation und jeder Mord, die wir verüben historische Konsequenzen, die weit über den grausamen Angriff auf Fallujah hinausgehen. Im Gegensatz dazu wird die Operation Vigilant Resolve nicht mehr als eine Fußnote in der amerikanischen Militärgeschichte werden - und vielleicht werden ein paar Marines auch ein Buch darüber schreiben.
Quelle: Brief-aus-Israel vom 29.04.2004. Original: Übersetzung aus dem Englischen: Angelika Schneider.