Re: Auf Arte 20.45 Verschwörungstheorien.
Geschrieben von DaveRave am 15. April 2004 13:00:56:
Als Antwort auf: Re: Auf Arte 20.45 Verschwörungstheorien. geschrieben von JeFra am 15. April 2004 05:24:58:
Könnten Sie den Text von arte ins Forum stellen oder kurz zusammenfassen? Bei mir erscheint nur eine Leerseite.
Aber gerne doch, Herr JeFra:
Gerüchte im Internet
von Pascal Froissart
Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften,
Universität Paris VIIIDa das Internet uns unbegrenzt und hemmungslos Texte jeglicher Art bietet, da im Netz der Netze alle und doch keiner zu regieren scheinen, da jeder sich zu jedem Zeitpunkt zu jedem beliebigen Thema zu Wort melden kann, da das Internet außerdem ein komplexer, in seiner Funktionsweise schwer zu durchschauender Mechanismus ist, konnte behauptet werden, dass es einen idealen Nährboden für Gerüchte darstelle. Davon muss man einfach überzeugt sein, wenn man sich die „Kettenbriefe“ (so nennt M.-L. Rouquette die Mails, die uns befehlen, ihnen zu glauben und sie weiter zu versenden) anschaut, die sich in unseren Mailboxen nur so stapeln, uns zum Lachen bringen oder zornig machen und mitunter sogar die Medien in Aufruhr versetzen.
Wer hat wohl nicht die obstruse Geschichte gehört, in der unmittelbar nach den Ereignissen des 11. September 2001 eine Frau einem Mann das Portemonnaie zurückbringt, das er verloren hatte, und er ihr zum Dank rät, am nächsten Tag nicht mit der U-Bahn zu fahren (oder nicht in ein bestimmtes Einkaufszentrum zu gehen), da es dort zu neuen Attentaten kommen werde? Eine Mail mit dieser Prophezeiung war gleich nach dem Attentat an viele verschickt worden, war von Mailbox zu Mailbox gelangt und mit Hilfe von Diskussionslisten, Foren und speziellen Websites weltweit verbreitet worden. Sogar eine Parodie –jedes Kettenbriefs höchste Vollendung - konnte man erleben: gleiche Geschichte, gleiche Erzählweise (eine in der U-Bahn vergessene Handtasche; ein ehrlicher Finder bringt sie ihrem Besitzer zurück, der sich mit dem Ratschlag bedankt, ein bestimmtes Restaurant am folgenden Tag zu meiden), dieses Mal jedoch mit einem Epilog: Ich war schockiert. „Es wird also ein Attentat geben?“, flüsterte ich. „Nein, mein Herr“, flüsterte er zurück. „Ich war gestern Abend dort. Das Essen war erbärmlich und die Dessert-Karte wirklich mickerig. («I was terrified. "Is there going to be an attack?" I whispered. "No, sir" he whispered back "I went there yesterday evening - the food was dreadful and the dessert selection extremely limited."»).
Man kann gar nicht anders als das Internet für eine Gerüchteküche zu halten, wenn kleine „unabhängige“ Websites Nachrichten verbreiten, die auf den ersten Blick zwar skandalös zu sein scheinen, sich dann aber als scoops erster Größenordnung erweisen: Hatte nicht die Clinton-Lewinski-Affäre damit begonnen, dass im Drudge Report, der nur im Netz verfügbar ist (www.drudgereport.com), ein „Gerücht“ in die Welt gesetzt wurde? Nicht zu übersehen sind auch die zahlreichen PR-Agenturen und „strategischen Wachposten“, die den Inhalt der Internetforen aufmerksam verfolgen und (gewollten oder ungewollten) Verunglimpfungen durch so manchen von der Redefreiheit berauschten Internet-User auf die Spur kommen.
Muss man aber deshalb das Netz gleich als Gerüchteküche betrachten und in ihm einen Nährboden für alle Auswüchse dieser Art sehen? Diese Schlussfolgerung scheint wohl doch etwas übereilt. Niemand zweifelt daran, dass das Internet den ungehinderten Umlauf von Gerüchten erleichtert. Auch lassen sie sich problemlos speichern, so dass sich mancher Sammler schon auf sie spezialisiert hat (z. T. zur eigenen Erbauung, häufiger jedoch, um sie zu widerlegen – was auch zu ihrer Verbreitung beiträgt, wie oft vergessen wird). Auch die Erleichterungen beim Versenden und Empfangen werden von niemandem in Frage gestellt: Vorbei die Zeit der Briefmarken und Umschläge, der Grenzen und Versandpapiere - ein Mausklick regelt alles. Doch allein die Tatsache, dass Informationen jeder Art im Internet eine neue zeitliche und geografische Dimension erhalten, schafft noch keine radikal anderen Vorgehensweisen. Kettenbriefe waren auch schon vorher erfolgreich, als man sie noch mit Tinte auf Papier schrieb. Das eng gefasste und von Fantasievorstellungen geprägte Bild vom Internet (zeitlich ungebunden, chaotisch, unsozial) hält den Fakten kaum stand, erklärt aber den ständigen Verweis auf den Zusammenhang zwischen Gerüchten und Internet.
Die Internet-Realität sieht anders aus: Das Netz wird von Interessen und von der soziologischen Zusammensetzung seiner Nutzer klar strukturiert, der Kontakt zu den Nutzern ist keineswegs zufällig. Websites, die sich auf Gerüchte spezialisieren (www.hoaxbuster.com oder www.urbanlegends.about.com, um nur die beliebtesten frankofonen bzw. anglofonen Sites zu nennen) oder die auf unabhängige Informationen setzen (wie die aufmüpfige Site www.criirad.com oder die humorvolle Site www.examineur.com), scharen eher ein Insiderpublikum um sich (mehrere Zehntausend Zugriffe pro Monat), vor allem, wenn man sie mit den Giganten der Nachrichtenbranche wie den großen Tageszeitungen (www.lemonde.fr mit 5,3 Millionen Zugriffen pro Monat) oder den TV-Sendern (www.tf1.fr mit 7,5 Millionen Zugriffen pro Monat) vergleicht! Auch wenn die Information frei im Netz steht, bedeutet das noch lange nicht, dass die Nutzung der Information nun nicht mehr durch soziologische oder intellektuelle Faktoren bestimmt wird. Im Gegenteil! Das heißt mit anderen Worten: Ein Gerücht ins Internet zu setzen ist wie eine Flasche ins Meer zu werfen: Die Handlung ist sehr symbolisch, aber nicht gerade effizient!
Auch dass jeder seine Homepage ins Internet stellen und die absurdesten Wahrheiten und Gegenwahrheiten verkünden kann, ist nicht eigentlich neu, wie die zahlreichen auf Kosten ihrer Autoren veröffentlichten Bücher zeigen, die vor dem Bestehen des Internet durch Abonnenten außerhalb der offiziellen Vertriebssysteme in Umlauf gebracht wurden. Und wie steht es mit der Verteilung von Handzetteln vor öffentlichen Einrichtungen? Erreichte man dabei nicht auch Tausende von Menschen in wenigen Stunden? Es zeigt sich klar und deutlich, dass das Internet in punkto Information und Gerüchteverbreitung nichts radikal Neues darstellt, sondern eher an eine „inkrementale Innovation“ erinnert. Abgesehen von seiner geografischen und zeitlichen Ausbreitung hat sich nichts von dem, was vorher schon bestand, wirklich verändert. Als Beweis dienen die Kettenbriefe, die heute per e-mail verschickt werden und oftmals eine wortwörtliche Kopie der vor den 1990er Jahren im Umlauf befindlichen Exemplare darstellen. Der Aufruf zum Boykott von Produkten, die den Zusatzstoff E 330 enthalten, z. B. zirkuliert mindestens seit 1976; Prophezeiungen (wie die des Unbekannten, der nach den Attentaten in Amerika davon abriet, einen bestimmten Ort aufzusuchen) können durchaus mit den griechischen Mythen verglichen werden, in denen die transvestitische Demeter Katastrophen voraussagte (vgl. Mircéa Éliade, 1981. Histoire des croyances et des idées religieuses). Die einzige unserer modernen Zeit und den Gerüchten im Internet geschuldete Neuerung besteht darin, dass es früher keine Virenwarnungen gab – wobei man natürlich einräumen muss, dass die elektronischen Viren damals überhaupt noch nicht existierten.
Dass im Internet die Gerüchteküche brodelt, ist also kein Zufall, denn Gerüchte gehören zu einem von Ethnologen seit langem analysierten Brauch und bedienen sich aller vorhandenen Netze, um sich zu verbreiten. In dieser Hinsicht sind die elektronischen Informationsträger nicht von den anderen Medien zu trennen: Die jüngste Affäre um das Buch Effroyable imposture (in ihm stellt Thierry Meyssan die offiziellen Theorien über die Attentate des 11. September in Frage) hat gezeigt, dass die Medien stark miteinander verquickt sind und die Wirkungen ihrer Aktionen stets in einem engen Zusammenhang stehen. In diesem konkreten Fall hatte der französische Verlag Éditions Carnot ein Buch herausgebracht, das in wesentlichen Teilen zeitgleich ins Internet gestellt wurde (www.reseauvoltaire.net). Die Information wurde zwar von einem der großen französischen Internetportale (www.yahoo.fr) übertragen, doch schon einige Tage später stürzten sich das Fernsehen (France 2) und die Zeitungen (Libération, Le Monde) darauf. Man kann zu Recht davon ausgehen, dass die Website nicht der einzige Urheber der daraufhin einsetzenden Medienflut war, sondern dass sie in gleicher Weise wie die anderen Informationsträger an der Pressekampagne beteiligt war. Und doch wurde die Rolle des Internet als ausschlaggebend beurteilt: die Le Monde betitelte ihren Leitartikel genüsslich mit „Le Net et la rumeur“ (Das Netz und die Gerüchte), und die 500 000 Exemplare einer Tageszeitung bzw. die Millionen Fernsehzuschauer einer populären Sendung wurden von den paar Zehntausend Zugriffen auf eine Website in den Hintergrund gedrängt.
Eine solche Vereinfachung der Medienrealität kann theoretisch kaum zufrieden stellen. Mitte der 1990er Jahre trat ein neues Informationsnetz in Erscheinung, das World Wide Web, das nicht etwa Tabula rasa machte, sondern sich im Gegenteil geschickt in die anderen Netze integrierte, die sich ihrerseits sofort dieses neue Netz zu Eigen machten: Alle traditionellen Medien haben heute ihre eigene Website, die oftmals stärkere Beachtung findet. Der Zugang zu Informationen und Gerüchten wurde dadurch jedoch nicht erleichtert, denn soziologisch betrachtet besitzt lediglich ein knappes Drittel der französischen Bevölkerung einen Internetzugang (in Deutschland hatten im Jahr 2003 46% der Privathaushalte einen Internetanschluss. Quelle: Jahrbuch 2003 des Statistischen Bundesamtes, Anmerkung der Redaktion) und die Informationsseiten gehören nicht unbedingt zu den populärsten Websites. Außerdem bedeutet der Zugang zu Information noch lange nicht, dass die Information verstanden wird und eine Beteiligung an der öffentlichen Debatte über die Bedeutung der Ereignisse gewährleistet ist. Hier ist die Situation wie bei den klassischen Medien auch: Nichts ist erreicht, alles bleibt zu tun.
Aus: FROISSART, Pascal, 2002: 205-208. „Rumeurs sur Internet ».
Les Cahiers de médiologie. N¼ 13 (premier semestre). Paris: Gallimard.
(Übersetzung: ARTE G.E.I.E.)