011 - Hartz IV

Geschrieben von tarman am 06. April 2012 00:15:50:

In den letzten Jahren wurden wir von neuen Zeitaltern geradezu verwöhnt. Es begann 1999 - da folgte das Jahr 2000, das wir Ältere jahrzehntelang als DAS große Datum für den Anbeginn der Zukunft vor uns her geschoben hatten. Da wollten wir mal mit fliegenden Autos zur von Robotern erledigten Arbeit fahren und unseren Urlaub auf einer Raumstation verleben - oder gleich in der Mondkolonie. Leider hat sich die Realität nicht an die Vorgaben der Autoren gehalten... Obwohl, Roboter erledigen heute einen großen Teil der Arbeiten. Allerdings brauchen sie uns dafür nicht. Wir wüßten also gar nicht, wo wir mit diesen Zukunfts-Autos hinfliegen sollen.

2001 brach wieder ein ganz neues Zeitalter an. Das haben zwar nur die Leute gewürdigt, die vor der Einführung der Gesamtschule dem deutschen Bildungssystem entrinnen konnten. Aber diese wußten wenigstens, daß das 21. Jahrhundert und das 3. Jahrtausend erst 2001 wirklich angebrochen sind. Die anderen hielten sich an das kaiserliche Dekret von 1899, worauf das 20. Jahrhundert am 1. Januar 1900 anzufangen hatte. Damit waren die Kaisertreuen ein volles Jahr früher im 21. Jahrhundert angelangt, als die mathematisch gebildeten Mitmenschen. Und die Bundesregierung hatte Zeit, um das Dosenpfand einzuführen, weil die wichtigen Entscheidungen ja schon vom Kaiser getroffen waren.

2002 begann endgültig das Euro-Zeitalter. Eine Ära von Konsum und Wohlstand brach aus, denn alles wurde billiger. Die Kantine im Supermarkt, die bisher das Schnitzel mit Pommes für 9,80 DM verkaufte, wollte dafür nur noch 6,50 Euro haben. Auch viele andere Preise wurden gefällig aufgerundet. Nur die Lohnbuchhalter arbeiteten völlig korrekt. Aber zum Ausgleich durften wir unser 6,50-Euro-Schnitzel auch in der Kantine eines spanischen, italienischen oder griechischen Supermarktes genießen, ohne erst Geld zu tauschen. Sogar Bundesminister Jürgen Trittin konnte ab sofort seinen französischen Friseur mit jenem Geld bezahlen, das er zuvor an einer deutschen Ladenkasse für sein gesammeltes Leergut erhalten hatte.

2003 hätten wir höchstens die zweite Ära Schröder feiern können, aber das unterblieb, weil sich viele nicht mehr daran erinnern konnten, daß sie ihn einige Monate zuvor gewählt hatten. Und erst recht konnten sie sich nicht daran erinnern, WARUM sie ihn gewählt hatten. Auch 2004 gab es kein neues Zeitalter, höchstens für den hochverehrten Herrn Bundesaußenminister und Vizekanzler Joschka I. Fischer waren wieder fülligere Zeiten angebrochen.

Doch unsere geliebte und zu allem fähige Bundesregierung hat keine Mühen und Steuerkosten gescheut, um uns wenigstens 2005 ein neues Zeitalter zu bescheren. Ab sofort leben wir alle glücklich im Jahr 1 von Hartz IV. Diese Reform ist ein wirkliches Glanzstück des sozialen Fortschritts und sie hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. So wie die Oder 2002 den Kanzler in eine zweite Amtszeit flutete, so hat sich diesmal ganz Südasien in einer Tsunami geopfert, um uns den Schrecken von Hartz IV zu nehmen. Wer keinen Job hat, kann vier bis sechs Stunden pro Tag die Katastrophengebiete im Fernsehen begaffen und Menschen sehen, denen es noch dreckiger geht als ihm selbst.

Jetzt verstehen wir auch, wieso diese Reform unbedingt so rasch durchgezogen werden mußte. Nein, nicht deswegen, weil sie nächstes Jahr zu dicht an den Wahlen gelegen hätte. Sondern wegen der Flutkatastrophe. Fluten sind immer gut für den Kanzler.

Dafür mußte das 16-seitige Antragsformular so umfangreich ausfallen, weil die Regierungsbeamten keine Zeit hatten, sich auf das zu beschränken, was darin wirklich abgefragt werden sollte. Um diesen Datenwust in die Rechner zu bringen, mußten die Bundesagenturen bürokratische Hilfe anfordern, also zahlreiche Beamte und Aushilfen anlernen und Überstunden schieben. Es war auch keine Zeit, um die Software ausreifen zu lassen, welche diese Daten entgegennehmen sollte. Aber keine Sorge, wer durch fehlerhaft ausgefüllte Anträge, fehlerhafte Dateneingabe oder fehlerhafte Software jetzt im Januar kein Geld erhalten sollte, der darf sich bei der Bundesagentur melden und um eine Abschlagszahlung bitten. Das hat Minister Clement versprochen. Dessen Gehalt ist übrigens nicht davon betroffen.

Insgesamt wird durch Hartz IV alles viel leichter und einheitlicher. Vor allem für sparsame Leute. Wenn Sie also in ihren 25 Berufsjahren ordentlich was auf die Seite gelegt haben, so fürs Alter, und nun als End-Vierziger ihren Arbeitsplatz verlieren, wird alles viel einfacher für Sie. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit dürfen Sie in Saus und Braus von Ihren Ersparnissen leben. Sie sind nicht mehr arbeitslos, sondern "Privatier". Erst wenn das Geld weitgehend aufgebraucht ist, dürfen Sie sich wieder melden. Bis dahin hat die Bundesagentur dann auch die Verwaltungsakte abgeschlossen und ihre Mitarbeiter in Einweisungslehrgängen auf die neue Aufgabe vorbereitet, Arbeitslose in Jobs zu vermitteln. Denn letzteres mußte sie leider zeitweise unterlassen, wegen der Umstellung auf Hartz IV.

Hätten Sie statt zu sparen Ihr Geld verjubelt - zum Beispiel auf den Malediven - dann würden Sie sofort unterstützt werden. Damit Sie nun nicht nachträglich auf den Gedanken kommen, dorthin zu fahren, hat man ein veritables Seebeben veranstaltet. Aber als Wiederaufbauhelfer sind Sie dort womöglich willkommen. Vielleicht sprechen Sie einmal mit Ihrem Arbeitsvermittler darüber.

Hartz IV stellt die Gleichheit vor dem Gesetz her. Wenn Sie also weder Beamter noch Politiker sind, werden Sie ohne Ansehen der Person nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zum Hartz-IV-Fall. Das erleichtert durchaus die Arbeit von Ideengeber Peter Hartz. Der ist nämlich Personal-Vorstand bei VW und kann so seiner ehemals streikbereiten Belegschaft erklären, was passiert, wenn diese durch ihr Verhalten den Vorstand dazu zwingt, mehr bei den Tochterfirmen im Ausland zu produzieren und dafür im Inland Personal abzubauen.

Wie gut diese neue Regelung für Gleichheit sorgt, möchte ich an zwei extremen Beispielen verdeutlichen. Herr Alpha hat zehn Jahre studiert und als Dr.-Ing. abgeschlossen. Er hat sich nach oben gearbeitet und als ihm sein Chef anbot, sich mit seinen Ersparnissen als Teilhaber an der Expansion nach China zu engagieren, hat er bereitwillig zugegriffen. Sein Chef flog einige Monate später nach Thailand, von dort auf die Bermudas und lebt jetzt unter neuem Namen in Paraguay. Das Geld der Firma floß nach Guernsey, von dort nach Liechtenstein und unter neuem Namen auf die Cayman Islands. Mittlerweile gehört es einem völlig unbekannten Paraguayer. Die Firma hingegen hat der chinesische Ingenieur, den Herr Dr. Alpha ausgebildet hat, in Container verladen und mit nach Hause genommen. Herr Dr. Alpha hingegen bekam einen 16-seitigen Antrag und durfte ausführlich begründen, warum er nach 25-jähriger Tätigkeit in gehobener Position nun mittellos herumsteht.

Auch Herr Omega hat diesen Antrag ausgefüllt. Herr Omega ist Türke, der in dritter Generation in Deutschland lebt und kaum Deutsch spricht, und der nicht einmal in der Döner-Bude seines Großonkels eine Anstellung gefunden hatte. Aber nein, jetzt will ich schon wieder Ausländer diskriminieren... Herr Omega ist ein junger Mann aus Chemnitz, dessen Lehrbetrieb nach zwei Ausbildungsjahren alle Subventionen aufgebraucht hatte und folglich aufgab. Herr Omega konnte seine Lehre niemals abschließen und... aber jetzt diskriminiere ich Ostdeutsche. Also gut, der Vater von Herrn Omega wurde mit 42 durch eine Staublunge stillgelegt, ein halbes Jahr vor jener Zeche, auf der er als Bergmann gearbeitet hatte. Herr Omega besuchte zehn Jahre die Gesamtschule und wurde dort im gegenseitigen Einvernehmen ohne wirklichen Abschluß entlassen. Unter einem Kanzler Adenauer hätte Herr Omega Hilfsarbeiter werden können, aber unter den Kanzlern Kohl und Schröder blieb ihm nur die Sozialhilfe. Übrigens - beim Ausfüllen seines 16-seitigen Antrags gab ihm sein Vater beim morgendlichen Bier noch ein paar wertvolle Tips.

Während Herr Alpha sehr viel und Herr Omega praktisch nichts in die Sozialkassen eingezahlt hatte, bekommen sie nun beide dasselbe heraus. Herr Alpha ist zu alt und zu überqualifiziert, um noch einmal einen Job zu bekommen. Aber er hat die Chance, einer kleinen Partei beizutreten und mit dieser Politiker zu werden. Natürlich schütteln seine zukünftigen Parlaments-Kollegen darüber den Kopf und rümpfen die Nase. Niemand versteht, wieso Herr Dr.-Ing. Alpha nichts "Anständiges" arbeitet und statt dessen z.B. die NPD intellektuell aufwertet. Herr Omega kann ihn immerhin wählen. Bis dahin bessert er sein Hartz IV mit Aushilfstätigkeiten auf. So ein bißchen tapezieren oder beim Umzug helfen... bei Freunden und Verwandten, natürlich. Doch auch das läuft nicht mehr so gut, denn seit der EU-Erweiterung helfen auch gerne polnische Touristen. Genau dafür haben wir die EU erweitert.

Doch natürlich lassen Peter Hartz, Gerhard Schröder und Wolfgang Clement weder Dr. Alpha noch Herrn Omega im Stich. Damit sie ihre Zeit sinnvoll verbringen, gibt es die neuen Ein-Euro-Jobs. Da können die beiden Seite an Seite den Wald fegen, wie einstens beim Reichsarbeitsdienst. Herr Alpha wird so davor bewahrt, eine Splitterpartei ins Parlament zu führen und Herr Omega kommt polnischen Touristen nicht in die Quere. Dank der großzügigen Bezahlung kann sich jeder der beiden schon nach zwei Tagen Arbeit (abzüglich der selbst zu tragenden Fahrtkosten) das Eintrittsgeld bei seinem Hausarzt leisten. Denn auch diese zehn Euro müssen sie bezahlen. So gleich sind wir heute alle.

Immerhin, mit den Ein-Euro-Jobbern kann VW in Deutschland billiger produzieren als bei der Tochter Skoda in Tschechien. Wer heute als Arbeitnehmer "freigesetzt" wird, der darf nach zwölf Monaten zu diesem neuen "Tarif" wieder anfangen. Die Zeit reicht gerade so aus, um die Fabriken zu modernisieren. Ja, die Reform ist wirklich gut durchdacht.

Durch die Ein-Euro-Konversion werden viele Arbeitsplätze in Deutschland wieder rentabel. So bringt uns Wolfgang Clement auf den Weg zur Vollbeschäftigung. Zwar sind diese Jobs noch nicht durchrationalisiert, weil für 150 Euro Monatslohn 300 Euro Verwaltungskosten anfallen, aber das bessert sich, sobald auch in der Verwaltung die Ein-Euro-Leute einziehen. Der Lohn wird übrigens nur bezahlt, wenn die Leute tatsächlich arbeiten. Wer krank wird oder gar Urlaub machen will, bekommt nichts. Wie einst in England 1850. Da verfaßte ein gewisser Karl Marx so hochgeistige Bücher wie "Das Kapital" oder "Das kommunistische Manifest". Aber das waren alles Irrtümer der Geschichte.

Jetzt müßten wir nur noch eine letzte Frage klären: Wenn wir in Deutschland erst mal 10 bis 20 Millionen Ein-Euro-Jobber haben und damit endlich wieder international wettbewerbsfähig sind, wer erwirtschaftet dann die Mietzahlungen für die Hartz-IV-Empfänger und das Geld für die Sozialkassen? Politiker? Die zahlen da nichts rein, die geben es höchstens aus. Beamte? Die auch nicht, die verwalten das Geld nur. Manager? Die tun alles, um davon nur zu profitieren. Fernsehstars? Die leben tunlichst im Ausland, um möglichst wenig abgeben zu müssen. Wer also bezahlt dieses Geld? Aber vielleicht fällt Peter Hartz noch eine Gemeinheit ein - pardon, eine Reform natürlich.

Wenigstens kann sich ein Ein-Euro-Jobber für seinen Tageslohn ein 6,50-Euro-Schnitzel in der Supermarktkantine leisten. (Falls er nicht gerade auf einen Arztbesuch sparen muß.) Sie müssen nur motiviert werden, mit diesem Geld den Konsum anzukurbeln. Sparen ist sowieso zwecklos (außer für einen Arztbesuch), denn was so jemand spart, wird ihm gleich wieder an Hilfe abgezogen. Aber wenn sich der Ein-Euro-Jobber das Schnitzel spart, reicht sein Geld vielleicht für die Leasingraten eines neuen Billig-VW, den seine Kollegen zusammenschrauben. Echte Handarbeit, billiger als jeder Roboter. Denn es gibt noch eine Erkenntnis aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Ein gewisser Henry Ford, der heute nur noch als Hitler-Sympathisant Erwähnung findet, sagte damals: "Meine Arbeiter müssen bei mir so viel verdienen, daß sie sich meine Autos leisten können". Folglich hat er Löhne nicht gedrückt, sondern erhöht. Aber das ist Vergangenheit, ein lange zurückliegendes Zeitalter. Das war sogar noch, bevor Norbert Blüm an den Rentenkassen herumreformierte. Und diese Erkenntnis paßt eindeutig nicht in das England des Jahres 1850, das unseren Sozialreformern vorschwebt.

Aber es wäre schon ein verlockender Gedanke, Autos in Deutschland so billig zu produzieren, daß sie sich ein Ein-Euro-Jobber leisten kann. Einfachst-Produkte für den deutschen Binnenmarkt, denn solche motorisierten Seifenkisten nimmt uns niemand im Ausland ab. Da Dr.-Ing. Alpha inzwischen nur noch Laub fegen und keine neuen Produkte mehr entwickeln kann, greifen wir auf bewährte Baumuster wie das Goggomobil oder die Isetta zurück. Ach ja - und unsere Nachfahren profitieren von der EU-Erweiterung. Wenn sie sich um Jobs im reichen Anatolien bewerben. Falls die Anatolier dann noch völlig verarmte und unqualifizierte Deutsche ohne türkische Vorfahren ins Land lassen.

PS.

Die Rente ist definitiv NICHT sicher! Selbst Norbert Blüm, der das jahrelang behauptet hat, weiß das inzwischen. Um seine eigene kärgliche Pension aufzubessern und sich für sein Alter abzusichern, arbeitet er seit neuestem als Werbedarsteller. So weit sind wir schon gekommen, daß nicht einmal unsere Politiker in Ruhe ihren Lebensabend genießen können.

Aktiven Bundestags-Abgeordneten geht es aber noch einigermaßen erträglich. Ihre Diäten betragen mehr als das 20-fache von Hartz IV, und damit es an nichts mangelt, legt das Volk noch eine steuerfreie Pauschale vom zehnfachen Hartz IV oben drauf. So etwas wie den Ein-Euro-Job gibt es auch für Parlamentarier. Wenigstens im Prinzip. Denn um diesen berühmten Euro einzustreichen, braucht ein hochqualifizierter Parlamentarier (also fast so hoch qualifiziert wie der arbeitslose Dr.-Ing. Alpha) höchstens eine Minute. Als Abgeordneter ist man auf diese Nebenverdienste angewiesen, denn die Diäten reichen hinten und vorne nicht. Im Gegensatz zu Hartz IV. Das reicht vollkommen. So haben es die Abgeordneten beschlossen.

Antworten: