009 - Weihnachten 2004

Geschrieben von tarman am 06. April 2012 00:14:15:

Diese Woche hätte so manches Thema geboten. An einem einzigen Tag wurde berichtet, daß jeder Abgeordnete zwei Karten für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 bekommen sollte, welche das gewöhnliche Volk nur durch Losglück erlangen würde. Am selben Tag scheiterten die Verhandlungen der Föderalismus-Kommission. Dabei ging es um eine Reform, bei der die Landesfürsten ein bißchen Macht an die Bundesregierung abgeben sollten, um den Gesetzgebungsprozeß ein wenig zu beschleunigen und parteitaktische Blockaden abzubauen. Aber so, wie jetzt die WM-Karten einen anderen Weg finden werden, um in die Hände der Abgeordneten zu gelangen, wird auch die Kommission ihre Arbeiten wieder aufnehmen. Was seit 1948 funktioniert hat, hält auch noch ein paar Monate länger durch, da muß niemand Reformen überstürzen.

Was hingegen wirklich dringend ist und zugleich unaufhaltsam, ist das Weihnachtsfest. Sollten Sie einen Kalender zur Hand haben, stellen sie fest, daß es dieses Jahr schon am 24. Dezember beginnt. Plötzlich und ohne Vorwarnung.

Obwohl, es gab Vorwarnungen. Wir hätten sie nur beachten müssen. Schon als im September die ersten Lebkuchen und Schoko-Weihnachtsmänner in den Geschäften auftauchten, hätten wir in den Kalender schauen müssen. Ja, schon damals stand er darin, der 24. Dezember, das drohende Datum. Doch viele Leute haben sich vorbereitet. Wenn Sie am Wochenende Nachrichten geschaut haben, bestaunten Sie Berichte von überfüllten Einkaufszentren. Keine freien Parkplätze in der Innenstadt, dafür eine unglaubliche Menge Menschen, die mehr oder weniger vollbepackt die Straßen oder die großartigen überdachten Einkaufszentren bevölkerten. In den letzten Wochen entschied sich für den Einzelhandel die bekannte Frage nach Sekt oder Selters. Stand die Anzeige noch Mitte November eindeutig auf "Selters", so dürfte sie gemäß dieser Fernsehberichte jetzt ein anderes Wort zeigen. Am Abend des 24. Dezember steht dort vielleicht sogar "Champagner".

Süßer die Kassen nie klingeln, reimte man früher, als diese tatsächlich noch klingelten. Die Computerkassen der Neuzeit piepsen nur noch. Deutschland erfaßte ein kollektiver Kaufrausch. Hier noch ein Geschenk, dort noch einen Glühwein, ach, und das nehmen wir auch noch mit. Der biblische Anlaß liefert die Dekorationen, ob festlich, kitschig oder bombastisch. Die Kirchen mögen am Abend des 24. Dezember voller sein als sonst, die Tempel des Konsums waren es schon in den Wochen zuvor. Damit das so richtig klappt, wird mit dem November-Gehalt das Weihnachtsgeld überwiesen, die Munition für die große Schlacht um den vollsten Gabentisch. Deutschland im Kaufrausch...

Doch das ist nur die eine Seite dieses Festes, dieses Weihnachtsfestes 2004. Viele Arbeitnehmer und Beamte bekamen 2004 weniger Weihnachtsgeld als das Jahr zuvor. Tarife wurden gesenkt, Sparmaßnahmen durchgeführt. Es sind nicht alle davon betroffen, doch es werden immer mehr. Arbeitslose erhalten gar kein Weihnachtsgeld. Und wer in Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe abgerutscht ist, der erlebt die Kehrseite des Konsums. Ihm droht das neue Arbeitslosengeld 2, besser bekannt als "Hartz IV". Wer sich in seiner Bedürftigkeit eingerichtet hat, sieht sich neuen Einschränkungen gegenüber. Zuvor hatten die Behörden gnadenlos seine Vermögensverhältnisse untersucht, auch die von Ehepartnern und Kindern. Bislang gewährte Hilfe wurde oft genug gestrichen. Hier wird der Konsum zum Angstschrei, zur Haltung: ein letztes Mal noch.

Die reichsten Deutschen sind reicher als je zuvor, doch mindestens drei Viertel unseres Volkes sind ärmer geworden in den letzten Jahren. Die Jahre vor uns sehen nicht gut aus. Arbeitsplätze sind in Gefahr, keiner weiß, ob er nächstes Jahr noch so gut leben wird wie in dem, das jetzt zu Ende geht. Die sozialen Systeme drohen zusammenzubrechen. Kein Mensch weiß, wie viel wir nächstes Jahr für Öl und Benzin bezahlen werden. Islamischer und anderer Terror bedroht unsere Sicherheit, deswegen kontrolliert der Staat so intensiv wie nie zuvor. Wir verlieren an Freiheit, für das Trugbild der Sicherheit. Im Irak, ein paar Flugstunden entfernt, wird geschossen und getötet. Schon wird spekuliert, ob sich der Krieg ausweitet, und ob Deutschland auch dann noch seine Soldaten heraushalten kann. Ein gigantisches Staatsdefizit verheißt neue Steuern und neue Einschränkungen. 2005 wird es den Euro noch geben, aber niemand kann Ihnen versprechen, daß er auch 2010 noch existiert. Kein Politiker und kein Wirtschaftsweiser. Womöglich werden wir den Sinn eines Wortes am eigenen Leib erfahren, das wir gerne vergessen hätten: Währungsreform.

Doch trotz dieser drohenden Zukunftsaussichten feiern wir Weihnachten. Dies ist nicht die Zeit, um zu spekulieren, ob Jesus nun im September des Jahres 7 vor Christus geboren wurde oder an irgendeinem anderen Datum. Es geht auch nicht darum, ob dieses Fest als römische Feier für Sol Invictus, als germanisches Yul oder als persisches Fest der Geburt von Mithras begonnen hatte. Oder ob das jüdische Hanuka zufällig an diesem Termin liegt. Egal, zu welchem Gott wir beten, oder ob wir überhaupt zu einem Gott beten, ist eine Kerze, die wir entzünden, eine Botschaft. Die kleine Flamme spendet Licht und Wärme, und wenn wir davor sitzen und sie auf uns wirken lassen, auch das Gefühl von Frieden und Geborgenheit. Dies ist nicht die Zeit, um meine symbolische Feder tief in Tabasco zu tauchen und Mißstände daran aufzuspießen.

Dies ist Weihnachten. Jenseits von Konsum und Kommerz ein kleines bißchen Sentimentalität, ein klein wenig Nachklang der Kinderzeit. Die Kerze sendet diese Botschaft, ob sie nun an einem festlich geschmückten Baum steckt, auf einem siebenarmigen Leuchter oder in einem zerschossenen Bretterverschlag in Falludscha. Es ist an uns, diese Botschaft aufzufangen, und sei es nur ein einziges Mal im Jahr.

In der letzten Kolumne (Hohelied der Demokratie, 15.12.2004) habe ich das Jahr 2004 mit dem Jahr 1904 verglichen. Auch hier will ich vergleichen, wieder mit einem Jahr, das eine Vier am Ende hat: 1944, das letzte Weihnachtsfest im zweiten Weltkrieg. Die Historiker mögen sich streiten, wer den Krieg begonnen hat, wer ihn wofür führen wollte. Eines hingegen ist sicher: die Millionen Menschen in Deutschland, die ängstlich in die Zukunft blicken, waren es nicht. Kaum eine Familie versammelt sich vollständig um den Weihnachtsbaum oder um die eine Kerze, die ihn ersetzt. Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind draußen im Feld, womöglich schon gefallen, vermißt oder in Gefangenschaft. Der Feind steht an den Grenzen des Reiches und die Parolen vom Endsieg aus dem Volksempfänger glaubt niemand mehr wirklich. Und doch feiern die Menschen Weihnachten, daheim ebenso wie Feld.

1944 ist meine Großmutter Witwe, mein Großvater war in Rußland gefallen. Sie hat zwei Kinder, zwölf und neun Jahre alt. Sie ist eine kleine Frau, auf dem Land geboren, in die Stadt gezogen, um sich ihr Leben aufzubauen. Den ersten Weltkrieg hat sie als Kind erlebt, doch jetzt muß sie Kraft für drei aufbringen, die Familie führen. Als sie die Weihnachtskerze entzündet, weiß sie nicht, daß sie am 16. März des nächsten Jahres ihre Wohnung im Bombenhagel verlieren wird. Daß sie danach bei Verwandten ihres Mannes um Obdach betteln muß, bei Leuten, die sie kaum kennt. Ich glaube nicht, daß sie ahnt, daß sie in den nächsten Jahren mehr Kraft aufbringen muß, als je zuvor in ihrem Leben. Die drei sitzen um die Kerze, hoffen, beten. Es ist Weihnachten, trotz allem. Die Kerze gibt ein kleines bißchen Geborgenheit.

Ja, die Zeiten wurden hart, doch sie wurden auch wieder besser. 1957, als ich zur Welt kam, lagen Krieg und Not bereits lange zurück. Meine Großmutter war eine alte Frau geworden, und erst jetzt, im Rückblick, beginne ich zu ahnen, welche Kraft in ihr gesteckt haben muß, als sie ihre Kinder durch diese schwere Zeit brachte. 1981 ist sie gestorben, kurz vor Weihnachten. Wenn ich nachher eine Kerze anzünde, in die kleine Flamme sehe und deren Wärme spüre, ist sie mir bestimmt ganz nahe...

Ich schreibe das nicht, um meiner Großmutter ein Denkmal zu setzen. Gewiß, sie hätte es verdient, wie so viele andere auch. Ich schreibe das, weil 1944 so ein Jahr war, in dem die Zukunft düster aussah, drohend und gefährlich. Zu Weihnachten 1944 waren viele Städte noch nicht zerstört, Dresden nicht und auch nicht Würzburg. Die schrecklichsten Kriegsereignisse standen noch bevor. Wir hatten das Glück, daß der Höhepunkt menschlichen Wahnsinns auf der anderen Seite der Erde entfesselt wurde, in Hiroshima und Nagasaki. Weihnachten 1944 feierten die Menschen in Deutschland in der Gewißheit, daß ein ganz schlimmes Jahr bevorstand. Deshalb ähnelt 2004 jenem 1944. Es kann nur schlechter werden, im nächsten Jahr.

Doch das schreckliche 1945 brachte auch den Frieden. So wird 2005 ebenfalls seine guten Seiten haben. Die Nachkriegsjahre waren keine gute Zeit, doch schließlich wurde es besser. Es ging aufwärts, ja sogar steil bergauf. Es kamen gute Jahre, die Hoffnung darauf war nicht vergebens gewesen. Auch das ist eine Botschaft des Jahres 1944, die wir beherzigen sollten.

Meine Großmutter gebe ich nicht her, aber auch in Ihrer Familie gibt es Menschen wie sie. Wenn Sie am Abend eine ruhige Minute haben, erschöpft von der Schlacht an der Konsumfront, dann, wenn die Sorgen um die Zukunft wieder auf Sie eindringen, wäre es bestimmt nicht verkehrt, ein altes, vergilbtes Foto hervorzuholen und eine Kerze anzuzünden. Die Frau oder der Mann auf Ihrem Foto hatte die Kraft, jene schweren Zeiten durchzustehen. Sie oder er hat Ihnen nicht nur das Leben geschenkt, direkt oder indirekt, sondern Ihnen auch die Kraft vererbt, solche Zeiten zu meistern. Geben Sie der kleinen Flamme der Kerze vor Ihnen eine Chance, Ihnen zu leuchten, Sie zu wärmen und mit Hoffnung zu erfüllen. Schauen Sie den Menschen auf Ihren Foto an. Ich weiß nicht, was Sie ihm sagen wollen, aber eines sollten Sie ihm sagen:

Fröhliche Weihnachten!

PS.

Auf folgende Tatsache bin ich erst gestoßen, nachdem ich den obigen Text bereits vollendet hatte. Die chinesische Astrologie kombiniert 12 Jahres-Zeichen (ähnlich dem westlichen Tierkreis) mit fünf Elementen. Zusammen ergibt das einen 60-Jahres-Zyklus, nach dem sich das gleiche Zeichen mit dem gleichen Element wiederholt. 1944 und 2004 sind nach der chinesischen Astrologie gleichartige Jahre. Sollten die Chinesen Recht behalten, dann durchleben wir in nächster Zeit die Nachkriegsjahre. Da hatten wir 1948 eine Währungsreform und ab 1950 begann das Wirtschaftswunder. Es gibt also Hoffnung, daß die Kerzen bald wieder fröhlicher brennen werden.

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