eine deutsche geschichte

Geschrieben von detlef am 22. Dezember 2006 19:36:10:

(und scheiss aufs copyright! die gehoert verbreitet!
vielleicht bekommt ihr jungen huepfer dann eine winzige ahnung davon, wovon wir immer schreiben...)


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Eine Weihnachtsgeschichte.


Von Annemie Fetten-Winklhofer.


Es ist der Tag vor Heiligabend. Die Dämmerung ist
hereingebrochen. Der Schnee vor der Tür löst sich
langsam in kleine Rinnsale auf. Drinnen bei Großmutter
ist es so richtig gemütlich. Das heruntertropfende
Wachs der roten Kerzen im Adventskranz, der Duft der
Bratäpfel und das ausströmenden Aroma des knisternden
kleinen Tannenzweiges auf der Platte des Kamins
vermitteln den Duft, der die Großmutter jedes Jahr in
der Weihnachtszeit begleitet hat. Und nun soll sie
wieder einmal erzählen, wie das "damals" war,
Weihnachten 1945. Die rothaarigen Zwillinge hören
nicht auf zu bitten. Die beiden Enkel sind ganz schön
hartnäckig für ihre 6 Jahre. »Die Geschichte hab ich doch schon oft erzählt. Wollt
ihr die wirklich noch mal hören?« »Ja, bitte, bitte.«
Bruder und Schwester, immer zu Streichen aufgelegt,
sitzen der Großmutter zu Füßen, knabbern Chips und
Großmutter schimpft nicht, wenn sie krümeln. Die
Kinder sind gern hier. Sie haben heute keine Lust, mit
den hektischen Eltern im Supermarkt herumzurennen, um
das, was diese bisher vergessen haben, noch auf die
Schnelle zu besorgen. Und das ist gar nicht so wenig,
wie sie aus Erfahrung wissen.


Nun gut. Großmutter lässt sich erweichen und erzählt
von "damals", als sie selbst noch ein kleines Mädchen
mit roten Zöpfen war.


»Ich war damals - 1945, im ersten Winter nach
Kriegsende - 6 Jahre alt und verstand von all den
Kriegs- und Nachkriegsereignissen überhaupt nichts.
Ich wusste nur, dass der schreckliche Krieg endlich zu
Ende war, dass keine Bomben mehr fielen und wir nicht
mehr den Tod fürchten mussten - war er doch während
der Bombenangriffe unser ständiger Begleiter.


Wir gehörten zu den Familien, die ihr gesamtes Hab und
Gut in den Bombennächten verloren hatten. Wir lebten,
mit den heutigen Verhältnissen verglichen, damals -
Weihnachten 1945 - in absoluter Armut zwischen
Sperrholzkisten und schliefen auf Strohmatratzen in
Betten aus Metallstangen. Zum Glück hatten wir keine
Vergleichsmöglichkeiten. Wie es vor dem Krieg im
Ruhrgebiet ausgesehen hatte, wusste ich nicht. Dazu
war ich ja viel zu klein. Aber unsere Mutter hatte
sich immer nach dieser Zeit zurückgesehnt.


Jetzt war die Hauptsache, dass die Sirenen und Bomben
nicht mehr bei Tag und Nacht schaurig losheulten. War
alles nur ein böser Traum gewesen? Wenn wir Kinder
draußen spielten, wurden wir schon daran erinnert,
dass das Kriegsgeschehen in unserer Heimat wirklich
stattgefunden hatte. Wir mussten ständig über
Trümmerberge hinwegklettern, riesige Schutt- und
Steinhaufen, die einmal Häuser waren. Und immer noch
stürzten Ruinen zusammen. Wir mussten gut aufpassen,
wenn wir Verstecken spielten.


Der Schwarzmarkt, auf dem getauscht, verschoben und
betrogen wurde, blühte zwischen den Ruinen der Stadt.
In den wenigen Lebensmittelgeschäften, die wie kleine
in Steinhaufen eingebaute Höhlen auf mich wirkten,
standen die provisorischen Regale meistens leer. Wenn
Ware eingetroffen war, drängelten sich draußen vor der
Tür Schlangen von Menschen, um ihre Rationen auf den
Lebensmittelmarken zu ergattern. Oftmals musste man
nach stundenlangem Schlangestehen verfroren mit leerer
Tasche wieder nach Hause gehen. Alle Menschen waren
schlank und hatten ständig Hunger. Es gab überhaupt
keine Dicken.


Weihnachten stand vor der Tür. Weihnachten! Trotz
aller Armut und Bedürftigkeit freuten wir uns wie die
Schneekönige auf das Fest der Freude und Liebe ohne
Bunker und Luftschutzkeller. Wir wohnten direkt neben
dem Trümmerberg unserer ehemaligen Wohnung in einer
provisorisch aufgebauten Holzbaracke mit
Einheitskohlenherd. Auf dem Ofen mit der schwarzen
gusseisernen Herdplatte wurde gekocht, wenn es was zum
Kochen gab. Wenigstens brauchte unsere Mutter diese
Herdplatte nicht blank zu scheuern. Unsere Mama hatte
es geschafft, für Weihnachten einen Zentner Nusskohle
ohne Bezugschein zu ergattern, die wir im
Leiterwägelchen am Zechentor der Zeche Prinz Regent
abends im Dunkeln abgeholt hatten.


Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel: unsere
Mutter, meine beiden Brüder, 10 und 11 Jahre, und ich,
6 Jahre alt. Unser kleines Tannenbäumchen hatten wir
heimlich abends in der Dämmerung im Weitmarer Holz
geschlagen. Zu kaufen gabs keine. Nur auf dem
Schwarzmarkt zu unerschwinglichen Preisen. Eigentlich
war diese Art 'des Besorgens' ein offenes Geheimnis
und strengstens verboten. Aber wir Kinder hatten kein
schlechtes Gewissen dabei und fanden diese Aktion sehr
spannend. Eisig kalt wars auf dem langen Heimweg und
der Schnee drang in unser leichtes Schuhwerk. Mama
schimpfte nicht, als wir mit klammen Fingern und roten
Nasen zu Hause mit dem gestohlenen Bäumchen ankamen.
Sie rieb unsere Hände warm. Wir tranken heißen
Kornkaffee, den unsere Mutter aus den Gerstenkörnern,
die wir im Spätsommer auf den abgemähten Feldern
mühsam zwischen den harten Stoppeln aufgelesen hatten,
geröstet und gemahlen hatte. Meine Brüder bastelten
aus Papier und Strohhalmen Figürchen und Sterne. Wir
waren voller Vorfreude.


Unsere Mama hatte Bouillonwürfel und Rindfleisch auf
dem Schwarzmarkt in der Stadt in der Nähe des
Rathauses eingetauscht. Auf dieser Meile wurden oft
Razzien von der Militärpolizei durchgeführt. Mama
wurde Gott sei Dank nie erwischt. Sie hatte unsere wie
Augäpfel gehüteten schönen Kristallteller gegen
Fleisch eingetauscht. Es waren die letzten
'Wohlstandsschüsseln', die aus unerfindlichen Gründen
übrig geblieben waren von unserem Vorkriegshausstand.


Unsere stets hungrigen Mägen knurrten einem wahren
Festessen entgegen, das aus Vorsuppe, gekochtem
Rindfleisch und süßen Kartoffeln bestehen sollte. An
die süß schmeckenden, verfrorenen Kartoffeln hatten
wir uns gewöhnt. Wir hatten hiervon einen Zentner
gegen Entgelt beim Bauern Vogelsang, den Mama aus
besseren Zeiten gut kannte, erstanden. Unsere Mutter
war ein wahres Genie beim Organisieren.


Schulunterricht gab's in diesem Jahr nicht. Es fehlten
die Räume und vor allem die Lehrer. Meine beiden
älteren Brüder konnten schon lesen und schreiben. Sie
sollten mir beim Aufsetzen meines Wunschzettels
helfen. Herbert, mein jüngerer Bruder, nahm mich
ernst. Wohingegen Karl, der Ältere, mich nie so ganz
für voll nahm. Er musste mich stets ärgern. Er
prustete laut los, als ich eine Woche vor Heiligabend
meine beiden so unterschiedlichen Wünsche äußerte. Wir
saßen am zusammengeleimten Tisch in der Küche. Unsere
Mutter hantierte am Herd. Sie warf ständig Holzscheite
zwischen die geöffneten Ringe des Ofens. Es qualmte
ganz schön, denn das Holz war noch feucht. Aber wir
mussten ja mit den paar Kohlen sparsam umgehen. »Ich
wünsche mir eine Babypuppe,« posaunte ich los.
»Babypuppe, Babypuppe«, äffte mein Bruder Karl mich
nach und bog sich vor Lachen. "Babypuppe", schrieb
mein Bruder Herbert ernsthaft auf meinen Wunschzettel.
Und dann folgte der zweite, der maßlose Wunsch, dessen
Erfüllung nur auf einem Wunder beruhen konnte: »Liebes
Christkind, mach, dass unser Vater bald wieder
heimkehrt. Bitte, bitte, bitte.«


Unsere Mutter weinte oft. Wir wussten nicht einmal, ob
unser Vater noch lebte. Es war über ein Jahr her, dass
wir ihn auf einem Sonderurlaub zum letzten Mal gesehen
hatten. Die beiden Jungen wünschten sich Baukästen und
Stelzen vom Christkind, obwohl sie gar nicht mehr an
das Christkind glaubten.


Am Heiligabend brannten sogar Kerzen an unserem
kleinen Weihnachtsbaum. Wir sangen: »O du fröhliche, o
du selige«. Auf dem Fußboden vor der selbst
gebastelten kleinen Krippe lagen unsere Geschenke. Ich
konnte es nicht fassen! Eine richtige Babypuppe mit
Porzellankopf, Kulleraugen und einem Nuckel im Mund
lag auf einem kleinen Kissen auf dem kalten Fußboden.
Ich nahm sie hoch und drückte sie an mich. Und diese
Puppe sagte: 'Mama'. Noch fester drückte ich unsere
Mutter. Ich ahnte schon, dass sie dem Christkind
geholfen hatte bei der Besorgung der Geschenke. Die
beiden Jungen rannten wie irre mit den Stelzen in
unserer Wohnbaracke herum, bis Mama uns an den mit
Köstlichkeiten gedeckten Tisch rief. Das wenige selbst
gemachte Marzipan von meinem Weihnachtsteller hatte
ich schon verspeist. Es gab Suppe, Fleisch, Kartoffeln
und rote Grütze. Ein feineres Weihnachtsessen habe ich
nie wieder genossen. Meine Puppe nahm ich natürlich
mit ins Bett. Unser aller großer Wunsch war aber offen
geblieben und ich hörte Mama in der Küche noch lange
weinen.


Mitten in der Nacht weckte uns ein heftiges Poltern an
der Haustür auf. Eine Klingel gab es nicht. Mein
erster verschlafener Gedanke war: »Bringt das
Christkind noch Geschenke für uns?« Mein zweiter war
schon realistischer: »Sind das Einbrecher?« Mich
überfiel meine mir so bekannte panische Angst. Doch
dann hörte ich den für mich gellenden Schrei unserer
Mutter: »Franz!« - Franz, Franz, Franz, so heißt ja
unser Vater! Die Tür nach draußen stand sperrangelweit
auf. Den vor die Haustür gewehten dünnen Schnee blies
der kalte Wind herein. Wir drei Kinder schrien wie auf
Kommando los: »Papa! Papa! Papa ist da!« Du lieber
Himmel, war das eine Freude. Ein Wunder war geschehen!
Als sich unsere Eltern endlich losließen, konnten auch
wir Kinder unseren heimgekehrten Vater umarmen. Sein
Bart kratzte. Seine verwetzte Uniform ohne Tressen war
fadenscheinig. Aber unser Glück war unbeschreiblich.
Vom Weihnachtsessen war noch genügend übrig geblieben.
Es war eigentlich für den nächsten Tag vorgesehen.
Aber es reichte dann auch doch. Später in meinem Bett
mit meiner Puppe im Arm dankte ich dem Christkind für
die beiden wundervollen Geschenke.


Unser Vater war aus amerikanischer
Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Da wir, seine
Familie, in der amerikanischen Besatzungszone lebten,
durfte er als einer der ersten Kriegsgefangenen
heimkehren. Wie sich sein Weg aus der Gefangenschaft
gestaltete und wie er uns überhaupt wiedergefunden
hatte, das habe ich euch schon erzählt. Wir waren noch
viele, viele Jahre sehr glücklich miteinander, obwohl
die Nachkriegszeit nicht einfach war, aber wohl schön,
weil wir alle bescheiden waren und uns über den
kleinsten Fortschritt wie die Schneekönige freuten.«


»Kinder, eure Eltern sind wieder da!« ruft da die
Großmutter. Sie hat ganz feuchte Augen von ihrem
Ausflug in die Vergangenheit. Die Zwillinge schnäuzen
sich wieder einmal kräftig. Dabei kennen sie die
Geschichte in- und auswendig.


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