Marie-Anne Adélaϊde Lenormand

Aus Schauungen, Visionen & Prophezeiungen

Sven Loerzer – Visionen und Prophezeiungen, 1998[1]

„1. In meinen prophetischen Weissagungen sage ich von Paris: ‚Wehe dir! Stadt der Philosophen, ach! ach! unglückliche Stadt! Denn eines Tages wird die Pflugschar über deine Ruinen gehen, und dein Vater wird zu seinem Sohne sagen: Hier stand Paris.‘
2. Diese unglückliche Voraussage sollte beim zweiten Einzug der Fremden nicht in Erfüllung gehen, obwohl es allen Anschein hatte. Bewahre uns Gott vor dem dritten Einzug.
3. Denn ich sage es euch Allen, die ihr lächelt und mich bereits durchdringen wolltet: Wenn wir uns nicht aufrichtig an die erhabene Familie anschließen, welche uns regiert; wenn wir uns nicht gegenseitig unsere Beleidigung vergeben; wenn wir nicht alles bisher begangene Unrecht vergessen, ach, dann wird Frankreich, das alte Frankreich, bald aus der Reihe der Nationen verschwinden.
4. Am ersten Januar hatte ich ein Gesicht. Ich rief den Engel Idraёl, eine höhere Macht, für das Glück meines Vaterlandes und die ungetrübte Ruhe unsers erhabenen Herrschers und der Enkel des großen Heinrich an:
5. Da hörte ich eine außerordentliche Stimme, welche sprach: ‚Noch manche Stürme. – Winde werden selbst ein heftiges Ungewitter von 1817 bis 1818 ankündigen.
6. Aber Sialul, der Geist des Glückes und des Friedens, verkündigt von 1819 bis 1823 etwas Außerordentliches und wunderbares. das sich in Europa zutragen soll.
7. Alsdann wird Frankreich seinen alten Glanz wieder bekommen; dieser wird aber nur von 1823 bis 1828 dauern; jedoch werden die Lilien von Neuem blühen, und ein junger Fürst wird eines Tages den verschiedenen Nationen sehr teuer sein. Die Völker werden sich über seine Geburt freuen. Er wird das Unterpfand des allgemeinen Friedens und der Versöhnung sein.‘
8. Er stützte sich mit der einen Hand auf einen Anker und hielt in der andern den Szepter der Welt.
9. Er sagte zu mir, indem er ihn zerbrach: ‚Es wird ein Tag kommen und dieser Tag ist vielleicht nicht ferne, wo dieser berühmte Szepter allen Nationen gemeinsam sein wird; die höheren Geister verschaffen ihnen diese Wohltat. Alle im Norden vereinigten Herrscher werden später zu diesem großen Akt der Gerechtigkeit mitwirken.
10. Ehe aber dieses geschieht, wird eine gewisse Anzahl von Jahren vergehen.
11. Und der Tempel des Janus wird wieder geöffnet werden. – Denn die Revolutionen sind wie Ströme…
12. … Wenn dies im neuen Weltteil geschieht, wird Europa eine gewisse Zeit lang ruhig sein. Frankreich insbesondere wird einen ungetrübten Frieden genießen; und die Lilien werden, ungeachtet mancher Stürme, die sich von Osten nach Westen erheben, von Jahr zu Jahr blühender.
13. Während der Engel Idraёl zu mir redete, schlief ich immer, ich sammelte, ich hörte im Schlaf die Vorschriften des göttlichen Boten. Er fügte hinzu: ‚Der politische Horizont verdunkelt sich von Neuem. Die Wolken häufen sich und Alles verkündet einen Sturm.
14. Derjenige Teil, welcher triumphieren will, fürchtet vielleicht mehr seinen schnellen Ausbruch, als er ihn wünscht; aber er sagt immerfort, daß die Dinge so weit gekommen sind, daß der Blitz die Wolke zerreißen muß.
15. Auf euere strafbaren Häupter wird er fallen. – O ihr Schmiede der ewigen Revolutionen, ich sage es euch, in kurzer Zeit werdet ihr vernichtet, wenn ihr in euern treulosen Absichten verharrt!‘
16. So wird das Jahr 1815 beginnen.
17. Ich richtete meinen Lauf nach Nanterre; ich brachte der erhabenen Beschützerin der Hauptstadt eine fromme Huldigung dar. Ich trat von der 16. bis 17. Stunde des Tages in Paris ein. Ich tröstete und beruhigte wieder einige meiner Schüler, indem ich ihnen offenbarte, daß dieses zweite, aber letzte Mal die Stadt der Philosophen durch eine allmächtige und göttliche Hand noch vor dem Untergange bewahrt werde.
18. Gleichwohl fühlte sich eine meiner Freundinnen, welche eine Somnambule war, immer mehr bedrückt und überließ sich einer düstern und schmerzlichen Unruhe.
19. Sie warf sich mit dem Gesicht zur Erde und blieb lange Zeit dem Schmerze und grausamen Vorgefühlen Preis gegeben. Endlich stand sie auf und sprach mit einem Ton, der die Ungläubigsten entsetzen konnte:
20. ‚O neues Carthago! Habe ich das Bild vor Augen, welches du den künftigen Jahrhunderten darbietest und das Los. das deiner wartet? Tyrus wurde die Beute eines gierigen und barbarischen Siegers, den seine Reichtümer als Feind herbeilockten und sein Winderstand reizte. Du wirst die Beute eines listigen Siegers, den deine Schüchternheit ermutigt und deine Unbekümmertheit um so schädlicher macht. Tyrus traf alle Anstalten, um seinem Untergang zu entgehen; du aber versäumst Alles, um den deinigen zu beschleunigen. Tyrus fiel unter der Übermacht; du fällst unter der Treulosigkeit.‘
21. Schon nahten die Verbündeten. Neue Wunder der Tapferkeit hätten nur dazu gedient, um auch den Rest des Heeres noch zu schlachten und unsere Hauptstadt dem Einfall des Feindes Preis zu geben. Paris befand sich, ach, in der Nähe der furchtbarsten Katastrophe. Wenig fehlte, so hätten unsere Enkel über den Ruinen des neuen Babylon geweint: die Vorsehung wacht über uns…
22. Franzosen … lasset uns der höchsten Gewalt unterworfen bleiben. Ach, wenn wir uns zu neuen Irrtümern fortreißen lassen, wenn die Wut der Anarchie noch einmal unter uns rast, so schaudere ich bei dem Gedanken an die Geißeln, welche unser unglückliches Vaterland zerschmettern.
23. Besonders Paris würde das fürchterliche Los treffen. Denn es steht geschrieben[Anm. 1]: ‚Die Flamme des Himmels wird die Wut der Feinde unterstützen.
24. Krieger, Weiber, Kinder, Greise, Alles ohne Unterschied wird der Schneide des Schwertes überliefert.
25. Der Pariser wird selbst mit der Wut und der Verzweiflung im Herzen und erfüllt von der Lehre, welche der Moskowite uns gab[Anm. 2], mit wütender Hand die Anstrengungen unterstützen, womit die Barbaren die Königin der Städte vernichten wollen.
26. Brennende Fackeln werden auf die Dächer der Häuser geworfen.[Anm. 3] Ganz Paris wird nur mehr eine ungeheure Brandstätte sein.
27. Die Brücken werden auf ihren zerstörten Bögen einstürzen;
28. Selbst der Palast unserer Könige wird die Erde mit Ruinen bedecken.
29. Der Tempel der erhabenen Beschützerin der Hauptstadt wird in Staub erfallen.
30. Vorstädte werden von den Flammen verzehrt zusammenstürzen und unter ihren noch rauchenden Ruinen alle ihre Bewohner begraben.
31. Das Geschrei der unglücklichen Sterbenden in der Todesangst wird aus dem Schutte hervordringen und diejenigen entsetzen, welche diesem furchtbaren Brande entgangen sind und nach dem selben Lose seufzen.
32. Endlich wird Paris, all' seiner Größe, Pracht und Herrlichkeit beraubt zum zweiten Male in die engen Grenzen der Zeiten der Barbarei zurücktreten.‘

Anmerkungen

  1. Der Originaltext lautet: „Car il est prédit“. Die richtige Übersetzung lautet: „Denn es ist vorausgesagt“. Der Hinweis auf eine schriftliche Quelle des Zitates ist also nicht gegeben.
  2. Im Originaltext, der französischen Ausgabe von „Souvenirs prophétiques d‘une Sibylle“ von 1817, steht, „[…] et tout plein de la leçon que le Moscovite nous donna […]“, was eigentlich heißt: „erfüllt durch die Lektion, welche der Moskowiter uns erteilte“. Diese Stelle bezieht sich auf den Brand Moskaus im Jahre 1812, fünf Jahre vor Erscheinen des Buches der Lenormand, und stellt die Befürchtung in den Raum, die Franzosen könnten beim Herannahen des Feindes zur selben Taktik der verbrannten Erde greifen. Die gängige Deutung, der Ausdruck bezöge sich auf Lenins Lehre und eine Wiederkehr des Kommunismus in unserer Zeit, muß vor diesem Hintergrund abgelehnt werden.
  3. Im Vergleich mit dem französischen Originaltext („[…]; des torches enflammées s'attacheroient aux toits des maisons.“) kann festgestellt werden, daß der Satz falsch übersetzt wurde. Die richtige Übersetzung lautet: „Brennende Fackeln werden an den Dächern der Häuser haften.“

Quelle

  1. Loerzer, Sven: Visionen und Prophezeiungen. Augsburg 1998.

Literatur

  1. Lenormand, Marianne: Les Oracles sibyllins ou la Suite des Souvenirs prophétiques. Paris 1817, S. 517 ff.
  2. Cellier du Fayel, A.-H.: La Vérite sur M. Lenormand. Paris 1845.
  3. Trülle, Johann Nepumuk: Das Buch der Wahr- und Weissagungen. Regensburg 1849.